Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
klappert, ein Radio spielt. Und alle Dinge und Töne der Welt stehen direkt vor ihm da, es gibt keine Entfernungen mehr: Die Berge, die Felskämme, die Häuser, Bettys Tüte, die weiß leuchtet, seine eigene Hand, die an seinem Körper hinabbaumelt, alles ist unterschiedslos da, alles blendet in grellen Farben, die Fluchten der Perspektive haben sich verkürzt, alles steht neu undfrisch direkt vor ihm, in ihm, kratzt mit den Konturen in seinen Augen: eine neue, wirkliche Welt, die nichts anderes ist als eine überdeutliche, überzeichnete Attrappe.
»Sag doch etwas!« Er hat eigentlich flüstern wollen, aber es ist ein Schrei, der seinen Körper verlässt. Er schüttelt Betty an den Schultern, als müsste durch die heftige Bewegung ein Wort aus ihrem Hals hervorkommen.
Wenn gestorben wird, müssen Formalitäten erledigt werden. Der Tod ist keine Privatangelegenheit, sondern ein Belang von öffentlichem Interesse. Es müssen Unterschriften geleistet, Urkunden ausgestellt werden. Kugelschreiber kratzen über Papiere, Stühle rücken und reißen tiefe Löcher in die Gehörgänge. Lichter blitzen auf, sausen durch die Luft, rauschen, und das Geknister von Papier explodiert zu einem Flackern.
Ob er sich im Krankenhaus hat untersuchen lassen. Ob alles in Ordnung sei. Wie er sich fühle, ob er vielleicht unter Schock … »Neinnein«, sagt Tom. »Neinnein. Ich weiß nur jetzt, wie es läuft, es ist, sehen Sie, es ist gar nicht so …« Er betrachtet seine Hand, die auch schon wieder da ist und auf dem Tisch liegt, eine Behauptung von Hand. »Es ändert sich fast nichts. Nur die Dinge, sehen Sie, die Dinge sind alle näher. Der … der Raum schmilzt unter den Dingen zusammen. Sie sind gar nicht so weit voneinander entfernt, sie sind alle gleichzeitig da. Das wusste ich vorher nicht.«
MORGEN IST AUCH EIN TAG
Es ist ihm ein gewaltiges Rätsel, wie Betty alles ertragen hat. Dies ist sein zweiter Gedanke, als sich der Schlaf in seinem Kopf auflöst. Der erste Gedanke, aus dem der zweite Gedanke hervorgegangen ist, wie ein Ast aus einem Baumstamm, galt Marc. Ein physischer Schmerz eher als ein Gedanke. Als risse ihn etwas in die Tiefe.
Betty steht mit verschränkten Armen an der Wand, blickt über ihn hinweg. Trotzdem scheint sie zu spüren, dass er erwacht ist. Ihre Lider sind geschwollen, ihr Mund wirkt eingetrocknet, die Lippen sind blass, aber scharfkantig und durch die Form nur, nicht aufgrund der Farbe, von ihrem übrigen Gesicht abgesetzt. Sie bewegen sich, als memoriere Betty in Gedanken einen Liedtext. Noch immer trägt sie ihren roten Wollpullover, scheint sich nicht umgezogen zu haben seit jener Nacht, obwohl es heiß ist und stickig im Krankenhauszimmer und ein länglicher Lichtschein hinter den Lamellenvorhängen lauert, der bereits halb über das Fensterbrett hinabgekrochen ist.
»Sie haben dir was zum Schlafen gegeben«, sagt sie.
»Ist dir nicht heiß?«
Sie schweigt. Sie scheint zu fürchten, dass er sich an nichts erinnert, dass sie ihm alles erklären muss.
Als sie im Holler-Opel sitzen und aus Samedan hinausfahren, redet sie. Dass sie seine Sachen schon gepackt habe, sagt sie, und auch Marcs Sachen, und der Cousin der Zimmerwirtin, ein gewisser Raphael, genannt Raphi, habe mit ihr zusammen das Auto vom Parkplatz geholt, was sie genauestens in allen Detailsberichtet, und die Zimmerwirtin habe zunächst kein Geld annehmen wollen, sie, so Betty, sei zunächst vor dem Akt des Geldnehmens zurückgescheut, da es ihr offenbar absurd vorgekommen sei, in dieser Situation Geld zu nehmen, und habe sich infolgedessen etwas gewunden, da sie nicht gewusst habe, wie der Preis letztlich zu berechnen wäre, da sie ja nunmehr nicht drei Personen, sondern … Sie bricht ab, ein gelber Laut springt in den Raum. Nie hat er einen solchen Ton von ihr gehört.
Ihre ausgestreckten Hände umklammern das Lenkrad. Es ist, als wolle sie es sich vom Leib halten.
»Wo fahren wir hin?«, fragt er, weiß aber nicht, ob er es nur gedacht hat.
Betty trägt jetzt eine Sonnenbrille. Ihr Mundwinkel zuckt, er ist rot und rissig wie unter einem Vergrößerungsglas. Tom hat den Eindruck, an dieser Stelle durch die Oberfläche ihrer Haut hindurchsehen zu können, aber vielleicht liegt es daran, dass er die Welt noch immer in besonderer Schärfe wahrnimmt und doch alles ihn blendet, als wäre er in einem abgedunkelten Zimmer erwacht und öffne im gleißenden Mittag die Vorhänge.
»Wir fahren zu ihm«, sagt sie plötzlich. Die Straße
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