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Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Titel: Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Zeiner
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Weinerlichkeit gewichen, die weniger Kraft zu kosten und die mit Hilfe des Alkoholkonsums jederzeit abrufbar zu sein scheint. Was in den Mund des Gerhard Holler hineinfließt, scheint es, tritt leicht durch die Augen wieder nach draußen. Er plant, in die Frühpensionierung zu gehen, wie er sagt, und schrumpft schon jetzt sein Arbeitspensum zusammen, auch das Lebenspensum scheint er schon jetzt zusammenzuschrumpfen, nur dasTrinkpensum nicht. Das Trinkpensum, das Fernsehpensum und das Essenspensum, denkt Tom, sind diejenigen Dinge, die im Wachsen begriffen sind in diesem Haus. Der Fernseher, das Essen und das Trinken, denkt Tom, werden noch lange Jahre so weiterleben in diesem Haus, auch dann noch, wenn wir alle längst tot sind.
    Als vor den Fenstern des Hauses Blätter wehen, als die Vögel sich ein letztes Mal von ihren Stromleitungen in den Himmel stürzen, der leer ist wie ein trockenes Schwimmbecken, wird Tom von seinem Vater um ein Gespräch gebeten. Es kommt der Tod der Lady Diana im Fernsehen, die sich, aus Versehen oder aus anderen Gründen, zusammen mit ihrem Liebhaber an einem Betonpfeiler in Paris getötet hat. Tom bedauert sie nicht, er beneidet sie. Zum ersten Mal seit Monaten erscheint ihm wieder etwas erstrebenswert. Ob er den Fernseher mal ausstellen kann, fragt ihn der Vater. Er kann doch nicht den ganzen Tag fernsehen, fährt er fort, indem er auf die Fernbedienung drückt und das Gesicht der Lady Diana vom Bildschirm mit einem Zucken verschwinden lässt. Es kommen Rechnungen an aus Berlin, sagt er, schon seit Monaten, die Rechnungen, die sie bisher stillschweigend bezahlt haben. Aber irgendwann, sagt der Vater, muss es auch genug sein. Das Leben gehe weiter, sagt sein Vater. Dann schweigt er, sieht auf seine Knie hinab. Er, Thomas, sei jung, er habe das ganze Leben noch vor sich. »Das Leben«, sagt er, dann bricht er ab. Langsam erhebt er sich, läuft zur Tür, aber als er im Begriff ist, sie zu öffnen, sagt Tom: »Warum habt ihr mich in die Welt gesetzt?«
    Der Vater hält inne. Sein Rücken zuckt, als stäche diese Frage in seine Wirbelsäule. Er senkt den Kopf, dreht sich langsam zu seinem Sohn. Er öffnet den Mund und weiß keine Antwort.

LEBENSMITTWOCH?
    Weil endlich etwas geschehen, sich verändern muss, hat sein Vater für Thomas eine Arbeit in einer Möbelfabrik besorgt. Jeden Morgen um zehn vor sieben steht Thomas rauchend vor der Produktionshalle, deren Milchglasscheibenlichter fahl und viereckig in die Dämmerung ragen. Gedämpftes Pumpen und Dröhnen der Maschinen. Er steht etwas abseits, wird für arrogant gehalten, man weiß, dass er Musiker ist, der Sohn vom Schreibmaschinen-Holler, der etwas Besseres sein möchte.
    Er ist froh, wenn es sieben ist, wenn die Schicht beginnt, denn dann wird der Tag eingeteilt, organisiert vom Rhythmus seiner Maschine, die verschiedenfarbige Punkte auf Stuhllehnen stanzt. Rot, grün, gelb. Manchmal verwechselt er sie oder spannt die Lehnen verkehrt herum ein, dann lässt er sie heimlich in einem der riesigen Müllcontainer verschwinden. Manchmal fragt er sich, wer auf diesen Stühlen sitzen wird, überlegt, dass es schön wäre, heimlich einen Gruß zu hinterlassen.
    In der Frühstückspause, von 9.20 Uhr bis 9.40 Uhr, wird draußen geraucht. Die hohen Aschenbecher stehen auf dem Treppenabsatz vor den Aufenthaltsräumen. Es sind viele Frauen, die rauchen. Manche tragen Gummistiefel, alle Kittel, haben Thermoskannen mit Tee unter die Achseln geklemmt.
    Einmal lächelt ihn eine an, eine jüngere. Sie lehnt an der Mauer, ein Wind streicht durch ihr Haar, als sie an ihrer Zigarette zieht. »Scheißjob, oder?«, sagt sie. Tom schweigt, hebt die Schultern. Zum Glück sei schon Mittwoch, sagt sie. Der Wochenanfang, sagt sie, sei immer schwierig, aber ab Mittwoch gehe es dann schnell, sagt sie. »Es ist wie mit dem Morgen, der vergeht auch langsam. Die zwei Stunden bis zur Frühstückspause«,sagt sie, »sind echt der Horror, aber ab Mittag geht’s dann.«
    Tom nickt, hat Ähnliches festgestellt. Ob es mit dem Leben genauso ist, fragt er sich. Ob auch das Leben ab Mittwoch schneller vergeht? Und wann ist Mittwoch im Leben, fragt er sich und betrachtet das Schuhgitter am Boden, durch das Gräser wachsen, dazwischen aufgeweichte Zigarettenfilter.
    Manchmal nimmt er nicht den Bus, sondern geht zu Fuß zur Arbeit oder nach Hause. Er geht über die Hügel. Es ist kalt. Es ist Herbst. Plötzlich merkt er, dass seine Heimat schön ist. Er hat es nie gesehen,

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