Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
jetzt mit einem Mal sieht er es. Die weite Höhe, der Raureif, der auf den Wiesen liegt wie Licht. Der Feldweg, der das Land durchschneidet, schmaler und schmaler zur Hügelspitze hin sich verengt, ein unendliches Versprechen. Tom läuft den Berg hinauf, zum höchsten Punkt, sein Atem geht rasch, oben bleibt er stehen und schaut hinab ins weite Tal, das sich in sanften Hügeln wie Wellen eines grünen Meeres bis zum Horizont ausdehnt. Dazwischen die dunkleren Inseln der Wälder, Dörfer. Hoch über ihm gehen Wolken, rasch getrieben vom Wind. Und er sieht, dass es schön ist. Ein Schluchzen sprengt seine Brust, er wächst, breitet die Arme aus, um das alles zu umarmen, das alles zu begreifen, die Wiesen, die Täler, die Bäume, die Zeit und die Traktoren, jene, die vor ihm gelebt haben, und jene, die nach ihm kommen, all die Komponisten und Dichter und Fabriken und Tiere, den Herbst und den Winter, den Frühling auch und die liebe Sonne, die ein Teil ist des Ganzen, wie all die Insekten, die Autos, die Musik, seine eigenen Hände vor dem Himmelsblau, und während das alles gleichzeitig in ihn strömt wie in ein plötzlich geöffnetes Vakuum mit einer Gewalt und Fülle, die ihn fast platzen lässt, geht er in die Knie,sinkt auf die schmale Fahrstraße nieder, wühlt seine Hände ins Gras der Böschung, tief in die Grasnarbe, denn da ist kein Unterschied, nirgends: Marc! Er ruft diesen Namen ins Weltall. Immer wieder. Marc! Denn Marc kann nicht weg sein. Er schreit, bis er kaum mehr Luft hat und keine Stimme und er den Kopf auf die Straße sinken lässt, wo die Schottersteine hart in seine Schienbeine drücken, in sein Gesicht. Er weint lange. Dann schämt er sich. In der Ferne, sich nähernd, das Röhren eines Traktors.
Der Winter aber kommt und geht wie ein weißer Atemhauch. Das hat einmal seine Großmutter gesagt, als er ein kleiner Junge war. Das Leben, hatte sie gesagt, sei vom Alter, dem Ende aus besehen, wie ein Atemhauch, wenn man bei Frost das Fenster öffne und hinausblicke, mehr nicht. Oft hatte sich Tom seine Großmutter vergegenwärtigt, wie sie am Fenster steht und ihren weißen Atem einen Wimpernschlag lang in die eisige Luft hineinstellt, wie sie anschließend das Fenster schließt und in die Dunkelheit zurücktritt, aus der sie gekommen ist.
Der Winter ist wie ein weißer Atemhauch vergangen und der Frühling zurückgekehrt, als sei kein Unglück geschehen, das sich jährt, als Diedrichs Cabriolet (ein Geschenk seiner Eltern zum Studienabschluss) vor dem Haus hält. Ein Arbeitstag wie alle anderen, und Tom ist mit dem Bus zurückgekommen, läuft die sonnenbeschienene helle Hauptstraße hinauf. Er denkt nichts. Oder zu viel. Das Auto kennt er nicht. Hätte er geahnt, dass es Diedrichs Auto ist, er wäre nicht ins Haus gegangen. Er wäre ins Land hinausgelaufen, fort, immer weiter.
Er sei gekommen, ihn abzuholen, sagt ins lange Schweigenhinein Didi, der mit seinen Eltern um den Wohnzimmertisch gesessen, sich plötzlich erhoben hat, als Tom das Zimmer betritt. Sie bräuchten ihn in Berlin. Einen Pianisten – er spricht sehr leise, als glaube er selbst nicht an seine Worte – wie ihn. »Jemanden, wie dich«, sagt er mehrmals. Der Fernseher läuft ohne Ton. Tom, als er Didi gegenübersteht, sieht, dass dieser entsetzt ist. Sein Mund bewegt sich lautlos in seinem Gesicht, als müsse er etwas kauen. Silben, die er lieber hinabschluckt. Zum ersten Mal fällt Tom auf, wie dick er geworden ist. Wie furchtbar er vermutlich aussieht. Er setzt sich auf das Sofa, stellt den Ton an. »Ich werde nicht mehr Klavier spielen«, sagt er zum Fernseher.
Und so geschah es. Er hatte seinem Empfinden nach nie wieder Klavier gespielt nach Marcs Tod. Er hatte wohl die Tasten hinabgesenkt, in bestimmter Anordnung, er hatte zusammen mit Diedrichs Quartett Dienstleistungsauftritte absolviert, bei Geschäftseinweihungen, Tanzveranstaltungen für Senioren, bei Einkaufspassagenjubiläen, in Feinkostabteilungen, auf Stadtfesten, hatte, nachdem ein findiger Agent namens Jens-Christian Hepp, den man Diedrichs Beziehungen und einer gewissen blonden Diplomatentochter namens Hedda Groning verdankte, auf die Idee gekommen war, dass man »Worldjazz«, wie sie es nannten, vermarkten könne, »groß rausbringen könne«, wie er sagte, da hatte er durch das Herunterdrücken von Tasten eine Menge Töne erzeugt anlässlich von Konzerten in kleineren und sogar größeren Hallen, hatte dafür Schallplattenpreise und Geld erhalten, aber Klavier
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