Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Der Flügel, in der Mitte des Raums, hing wie ein Schatten in der Luft und spiegelte sich in der blauen Glasscheibe der Balkontür. Ein Ast draußen schwankte und schlug sacht ans Fenster. Gedämpfter Lärm, der von der Kneipe auf der anderen Straßenseite herüberflog. Und auf dem Deckel des Instruments, dem er sich langsam näherte wie einem Tier, das bei einer zu raschen Bewegung aufschrecken und fortspringen könnte, lag, wie er sah, ein weiterer Zettel. Es war das gleiche karierte Papier, aber nicht mit Bettys Schrift, sondern einer fremden, die er nicht kannte. »Lieber Tom«, war zu lesen, »behalte ihn und spiel auf ihm, Marc hätte es so gewollt.«
Ein Marienkäfer lief über das Blatt, kletterte am geriffelten Ende des Papiers in die Höhe, spreizte die Flügel und flog ein Stück, aber er schwankte in der Luft, sackte schwer wieder zu Boden. Tom nahm an, dass er hier überwintert hatte, sein neuer Mitbewohner.
»Vielleicht schenke ich ihn dir mal«, hatte Marc gesagt, am Tag eins ihrer Freundschaft. Aber er hatte den Flügel nicht verdient. Auch nicht den riesigen Karton mit Kompositionsfragmenten Marcs, den er in seinem eigenen Zimmer vorfand. Nicht die Schachtel mit Briefen, handschriftlich adressiert an Marc Baldur, Le Coste Avenue, Berkeley. Es dauerte Minuten, bis Tom begriff, dass dies seine eigene Schrift, seine eigenen Briefe waren, in einem anderen Leben an seinen Freund gerichtet, der sie nicht in Kalifornien auf den Müll geworfen, sondern mitgeschleppt und jahrelang aufbewahrt hatte. Noch lange saß er so da, auf dem Fußboden, vor dem Karton voller Luftpostumschläge, und erkannte am dünnen Papier, das sich wellte, sich mit dunklen Flecken bedeckte, dass er weinte.
DER AUFSTIEG
Was geschieht, wenn sich aus einem Planetensystem der größte der Himmelskörper entfernt? Wenn der mächtigste der Planetengruppe, um den alle anderen Gestirne sich anordneten, um den sie auf ihren konzentrischen Bahnen kreisten, was, wenn diese Mitte verglüht, implodiert, in sich zurückfällt in die Ewigkeit des ausdehnungslosen Punkts? Sie sind aus ihrer Bahn geworfen, driften auseinander, rasen Äonen von Lichtjahrentfernungen in die Dunkelheit des Alls und kehren nicht wieder.
Tom fand eine Wohnung im nördlichen Prenzlauer Berg. Er nahm die erste, die ihm angeboten wurde. Ein-Raum-Küche-Bad, gerade so groß, dass der Flügel hineinpasste und ein Bett. Alles andere warf er auf den Müll oder übergab es Didi, dem es leidtat um die Bücher, um die Noten, und der Teile davon auf dem Flohmarkt verkaufte oder behielt. Tom wollte nichts mehr, wollte eigentlich auch nicht den Flügel, allein ein Hauch von Ungewissheit, ob es Marc vielleicht wirklich gutheißen würde, wie Lisa annahm – Lisa, die nichts wusste, nichts ahnte –, veranlasste ihn dazu, das Instrument doch zu behalten.
Oft saß er stundenlang auf seinem Bett und betrachtete das Erbstück, dessen gleichermaßen an Wald und Weihrauch erinnernde Ausdünstungen – mehr noch als dessen Ausmaße – in der frisch tapezierten Enge des Zimmers überdimensioniert erschienen. Tom saß mit verschränkten Armen, schaute auf den Flügel und versuchte, eine Ordnung zu bahnen in all seine Gedanken, die letztlich nichts waren als ein einziger langer Gedanke, der sich in seinem Kopf verwirrt hatte. Es sind nicht die Ideen, sagte er sich staunend, es ist nicht der Geist, der weiterlebt. Sondern es sind die Dinge. Die Dinge sind es, die überleben. Die Telefone, die Computer, die Tische, die Stühle, die Klaviere. Es sind die Hosen, die Bonbons, die Pullover der Toten, die überleben. Deren Schuhe und Briefe. Nicht das Materielle ist vergänglich, sondern der Geist.
Er trank viel, aß wenig, damit der Alkohol besser wirken konnte und diese Erkenntnis, wenigstens zeitweise, verschleierte.
Der Gedanke an Betty war der zweite endlose Gedanke, der sich mit dem anderen verknotete. Er wusste von Ulrich, dass sie nach Tübingen zurückgegangen war, dass sie ihr Medizinstudiumwiederaufgenommen hatte, und oft dachte er daran, sofort dorthin zu fahren, sie zu suchen, die gesamte Stadt, die Welt, wenn es sein müsste, nach ihr abzusuchen. Aber es durfte nicht sein, es war unmöglich. Einzig im Kopf konnte er es tun. Er ging hin, stellte sich alles genau vor, seine Zugfahrt, die Bahnhöfe, das Wetter in Süddeutschland in vielen Varianten, die mittelalterlichen Häuser, die engen hohen Gassen, die Studentencafés mit den Filmplakaten der siebziger Jahre an den Wänden, und
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