Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
aber wunderte sich sehr. Er hatte die Graumeise gesehen. Plastisch in seinem Kopf, im Wald seines Kopfes. Und dabeiwusste er gar nicht, wie sie aussah. Vieles war in seinem Kopf anwesend, wie die gesichtslose Graumeise. Unzählige Fragmente seiner Vergangenheit, Wertvorstellungen, blaue, gelbe und graue Überzeugungen, Geschehnisse, Kenntnisse, aus denen sich seine Person zusammensetzte, und alle schienen sie ihm plötzlich ebenso ausgedacht wie die Graumeise, Behauptungen, Lügen, die sich mit der Zeit verstofflicht hatten und sein Ich bewohnten wie die Tiere und Bäume einen unübersichtlichen, wuchernden Wald. Er bestellte noch zwei Bier.
RENOVIERUNG
Das Haus in der Knaackstraße war eingerüstet, als Didi sein Cabriolet auf dem Bürgersteig parkte. »Sie renovieren es«, sagte er. »Du musst dir eine neue Wohnung suchen, die Mieter müssen alle raus«, sagte er knapp, nachdem er es die ganze Fahrt über verschwiegen hatte.
»Nein«, sagte Tom, als Didi die Fahrertür öffnete, fasste seinen Oberarm. Nicht, bitte, er wolle allein sein.
Im Treppenhaus hatten sie bereits neuen Putz aufgetragen. Die verblassten Jugendstilornamente waren unter der Glätte des frischen Mörtels verborgen. Auch die abgeblätterten Stuckgesimse im Eingangsbereich hatte man entfernt. Es war Nachmittag, und durch die schmalen Buntglasfenster im Treppenhaus strömte mildes Licht, legte sich in Rauten auf den alten, schmutzigen Linoleumbelag. Wie oft war er mit Marc diese Treppe hinuntergerannt? Wie oft waren sie nebeneinander diese Stufen gegangen, hatten ihre Hände über dieses Geländer gleiten lassen?
Er schloss die hohe Wohnungstür auf, wunderte sich, dasssein Schlüssel noch immer passte. Der Flur war dämmrig und kühl, nur aus einem der Zimmer, Marcs Zimmer, ganz am Ende drang ein matter Lichtschein, der die rotbraunen Dielen heller färbte. Die nackte Glühbirne baumelte im Luftzug, der durch das Öffnen und Schließen der Tür verursacht worden war. Tom blieb stehen, stellte die Reisetasche neben sich auf den Fußboden und achtete auf nichts als die Stille. Kein Geräusch war zu hören, außer seinem eigenen Schlucken, einem Knacken in den Ohren.
Langsam ging er in die Küche. Der Tisch war leer, bis auf einen kleinen karierten Zettel, darauf stand: »Lieber Tom«, Komma, sonst nichts, Bettys Handschrift. Er nahm das Papier in die Finger, ungläubig, befühlte es vorsichtig, wie etwas Lebendiges, und ging damit zum Sofa hinüber. Wie immer war es mit Zeitungen bedeckt, die er zur Seite strich, bevor er sich setzte. Er nahm einige zur Hand, überflog Daten und Meldungen: Der Waffenstillstand zwischen Israel und der Hisbollah war gebrochen worden. George Clooney hatte einen Film gedreht. Eine Rentnerin war in Friedrichshain ermordet worden. Und noch vieles mehr war geschehen. Er überlegte, ob ihn all das damals interessiert hatte. Er wusste es nicht. Er wunderte sich über den Staub, der auf allen Dingen lag. Auf den Regalen, dem Geschirr, dem alten Küchenradio am Fensterbrett, selbst auf dem Topf mit vertrockneter Kresse, überall lag eine bleierne Schicht, die im letzten schrägen Lichtstrahl aufleuchtete, bevor sie verlosch, unsichtbar wurde. Ranziger Holzgeruch. Ein Hund bellte irgendwo, vielleicht im Nachbarhaus. Langsam wurde es dunkel, er hätte Licht anschalten müssen, aber er ließ es sein. Noch immer saß er in Jacke und Schal auf dem Sofa, Bettys Zettel in der Hand. All die Gegenstände, dieTeller und Kochbücher, die Blumenvase, die halbgefüllten Spirituosenflaschen auf dem Küchenbuffet, darunter die blinden Scheiben, an denen vergilbte Postkarten steckten, ein Paar Turnschuhe neben dem Türrahmen. Alles das war ebenso sprachlos wie er selbst.
»Was ist das Wichtigste im Leben, sagen Sie es mir«, hatte ihn Volker Hermanns einmal gefragt. Er konnte sich nicht erinnern, was er damals erwidert und womöglich für richtig gehalten hatte. Plötzlich glaubte er, die Antwort zu kennen: Der Tod ist das Wichtigste im Leben. Er saß noch lange so da.
Erst als es Nacht geworden war, ging er in Bettys Zimmer hinüber. Es war leer, an der Wand leuchteten einige weiße Vierecke, hinterlassen von Postern, die sie abgenommen hatte. Als er Marcs Zimmer betrat, wunderte er sich, dass das Geräusch der Dielen, die unter seinen Schritten knarrten, noch immer das gleiche war. Auch in diesem Zimmer war nichts mehr, nur der Schein des Straßenlichts, das helle Rechtecke am Fußboden ausbreitete.
Er ging ins Wohnzimmer hinüber.
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