Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
das Haltbarste, nämlich das Knochengerüst,die Schädelform eines Menschen, erkennen zu wollen mit weit größeren Schwierigkeiten verbunden wäre?
Sie sah, dass sie zitterte. Ihre Zehen krallten sich in den Steinboden. Wir bräuchten mal einen Teppich, dachte sie. Einen Schlafzimmerteppich. Wir bräuchten mal ein Kind. Gymnastik, dachte sie und strich mit ihren Händen über ihren Bauch. Ich sollte mal anfangen, Gymnastik zu machen.
Wie sie da so stand, an diesem kalten Ort, der ihr Schlafzimmer war, festgeschraubt wie ein Figürchen in einer Spieluhr, die man nicht mehr aufzog, vergingen viele Minuten, was von der in ihren Kleiderschrank hineinsehenden Betty nicht bemerkt wurde, bis sie sich endlich ohne ersichtlichen Grund, wie aufgedreht von irgendjemandem, weiterbewegte, eine Hose und eine Bluse aus dem Schrank riss, sie anzog, auszog und sich eine andere Hose und eine andere Bluse griff und diese anzog und wieder auszog. Wieder stand sie in Unterwäsche vor dem Dunkel ihres Kleiderschrankes, und ihr Blick fiel auf das blaue Prinzessinnenkleid, das ihr Alfredo vor vielen Jahren in einer Boutique in der Via Chiaia gekauft hatte, und seinen ausgerissenen Saum. Sie hatte es für Alfredo getragen, sie hatte es für Carlo getragen, aber Tom, dachte sie, würde das Kleid sofort lächerlich finden, er war der Einzige, der es lächerlich finden würde an ihr, unpassend wie eine echte, zu große, daher schief sitzende und zu schwer wiegende Krone auf dem Kopf einer Faschingsprinzessin. Was hatte sie damals für Tom getragen? Was hatte sie für Marc getragen? Was für die Eine-Nacht-Bekanntschaften in Bologna, was für den Tübinger Alex, für Diedrich von Jagow, für ihre Eltern, ihre Klassenkameraden, die Menschen auf den Plätzen, was für De Santis, die Schwiegereltern, was würde sie für ihre Kinder anziehen, wenn sie welche hätte,dachte sie, ins unübersichtliche Dunkel ihres Kleiderschrankes hineinschauend, worin die heutigen und die damaligen Kleider, die Kleinmädchenkleidchen, die Achtziger-Jahre-Sweatshirts, die T-Shirts mit Löwengesicht, mit Micky Maus, der Hundeparka mit Rotmütze, die Sängerinnenblüschen und die Krankenhauskittel, die gegenwärtigen Jeans und die zukünftigen auf ein und derselben durch die Zeit führenden Stange durcheinander zu hängen schienen. So viele Kleider!, dachte sie. Nur aus Angst vor der Nacktheit, aus Angst vor dem als Falschprinzessin-Entdecktwerden, kleiden wir uns an und an, und dadurch verlieren wir uns. Und weil sie fürchtete, dass Tom sie entdecken würde, dass er sie durch das in der Erinnerung womöglich noch gesteigerte psychedelische Geflimmer seiner Vorstellungen hindurch erkennen, dass er sie entkleiden würde, hatte sie sich umso sorgfältiger anzuziehen, beschloss sie, am besten etwas nachlässig, um zu signalisieren, dass sie ihrem Treffen nicht allzu viel Bedeutung beimaß. Und da fiel ihr plötzlich die Zeit ein. Sie lief in die Küche und sah, dass es spät war. Sie lief ins Schlafzimmer und zog nun tatsächlich irgendetwas an.
Als sie in der Funicolare stand, eingehängt mit dem Handgelenk in den schwankenden Haltegriff, und an den Gesichtern der Fahrgäste vorbei und tief hineinsah in die dämmrige Flucht der Bahn, erwog sie die Möglichkeit, nicht zum Konzert zu gehen. Stattdessen nach Rom zu fahren, zu einem überraschten Alfredo, eine Nacht in Rom gemeinsam zu verbringen, was ihr plötzlich ebenso romantisch wie richtig erschien.
Sie stieg aus an der Endstation, Piazzetta Duca D’Aosta, ging über den quadratischen Platz, zögerte und verlangsamte den Schritt. Als sie am hohen Eingangsportal des Teatro Augusteoangelangt war, blieb sie stehen. Sah das Plakat. Naufragio. Schiffbruch . Sie streckte die Hand aus, ihre Finger umschlossen den kühlen Messingknauf der Tür, die sich öffnete, und langsam durchschritt sie das menschenleere, hell erleuchtete Foyer, lief unter Kristallleuchtern, die im Luftzug zu schwanken schienen, vorbei am gläsernen Kassenhäuschen, das bereits nicht mehr besetzt war, in die Weite des Vorsaals, aus dessen Hintergrund, einer mit rotem Samt verhangenen Garderobe, ein älterer Herr sich löste wie aus einem Gemälde, indem er plötzlich lebendig wurde und auf sie zueilte. Sie drehte sich um und wollte hinaus.
»Signora«, rief der Mann in ihrem Rücken. »Möchten Sie noch hinein? Haben Sie eine Karte?«
Sie blieb stehen. Sie nickte. Eine Karte, sagte sie, sei zurückgelegt, auf ihren Namen. Der ältere Herr, der beim
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