Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Seine Philosophie: Destruktivität. Seine Kreativität: Schlampigkeit. Seine Musik: Langeweile. Seine dunklen Haare: Ungekämmt. Seine schönen braunen Augen: ein trauriger Anblick. Seine Großzügigkeit: Lebensunfähigkeit. Seine Karriere: Scheitern.
Im Grunde, das dachte er, war das Missglücken ihrer Ehe nichts anderes gewesen als Heddas langsame Erkenntnis.
Je mehr sie ihn erkannt hatte, desto häufiger kam die Erinnerung zurück. Und auch die Fragen, die er geglaubt hatte als nicht beantwortbar abgelegt zu haben, kehrten wieder, all die komplizierten Wenn-Konstruktionen, die er durchdeklinierte wie lateinische Grammatikübungen: Wenn Marc nicht, dann Betty, dann Hedda nicht. Und so weiter, in allen erdenklichen Variationen. Als sie die Scheidung wünschte, war er nicht überrascht. Fast war er erleichtert. Er wusste es nicht, dachte er im Zug sitzend, ob sie Dr. Lutz Wegener da schon gekannt, geliebt hatte, es war nicht wichtig. Wichtig war, dass Hedda sich selbst und ihn aus dieser Ehe befreit hatte. Denn er hätte es niemals getan (»nie tust du etwas«). Als sie dann ausgezogen war mit ihren vielen Dingen und Möbeln und Schuhen, war es ihm nicht besser und auch nicht unbedingt schlechter gegangen, was ihnüberraschte. Er hatte geglaubt, dass sich etwas ändern müsse. Es hatte sich aber nichts geändert. Die einzige Veränderung war gewesen, so dachte er im Zug sitzend, dass er das, was in ihm war und die ganze Zeit über schon in ihm gewesen war, jetzt offen zugab. Er ließ sich gehen, wie man es hätte nennen können. Er ließ sich, so nannte er es, wie er war.
Als sie im Winter ihre so bezeichnete Kreativitätspause einlegten, nicht zuletzt, damit er sich von der Trennung würde erholen können, und er daher von einem Tag auf den andern keine Termine, keine Proben, keine Verpflichtungen mehr hatte, nicht einmal die Verpflichtung, sich zu kämmen und seinen Kram wegzuräumen, da meinte er plötzlich zu spüren, was das Leben sei. Das Leben sei nichts als das Leben. Nichts tun. Sich nicht ablenken durch Arbeit, durch Frauen, durch Ehe, womöglich durch Haustiere, Kinder, Musik, nein: Einfach dasitzen ohne jede Tätigkeit, auch ohne fernzusehen, nur und ausschließlich zu leben. Es war eine Aufgabe, die er nicht meisterte.
Natürlich nicht, dachte er im Zug sitzend. Natürlich habe ich es nicht gemeistert, ich habe es natürlich nicht ausgehalten, sondern habe mich schon nach wenigen Wochen postwendend umbringen wollen! Und auch das habe ich nicht geschafft, dachte er Erdnüsse essend, die Diedrich ihm reichte. Und ferngesehen hab ich auch. Und wie ich mich zu Silvester an meinen, an Marcs Flügel gesetzt habe und das Meisterwerk geschrieben habe, während draußen ein neues Jahr anbrach, der Himmel in Flammen, meine »Feuerwerksmusik«, die sich schon am nächsten Tag, dem Neujahrstag, als ein epigonales, von meinem einzigen Freund und Musiker Marc geklautes plagiatorisches Machwerk herausgestellt hat. Aber schön gebrannt hat es immerhin.
Und jetzt fahre ich nach Neapel, dachte er im Zug, und bin glücklich, obwohl ich eigentlich unglücklich bin. Noch vor ein paar Tagen habe ich mich umbringen wollen, und jetzt bin ich schon wieder glücklich. Ich gehe mit einer Studentin der Kulturwissenschaften durch die Museen, erleide einen Schwächeanfall, betrinke mich und schlafe mit ihr zusammen ein, ohne dass außer Knutschen irgendetwas passiert wäre, und bin glücklich. Ich bin ein versoffenes Wrack und bin glücklich. Ich denke an Hedda, die ich unglücklich gemacht habe, und bin glücklich. Ich denke an Betty Morgenthal, die ich unglücklich gemacht habe, und bin auch glücklich. Ich denke an Marc, den ich umgebracht habe, und bin glücklich. Sogar Diedrich von Jagow, wie er dort sitzt und Erdnüsse schält und wegen seiner Physiognomie an ein Maichhörnchen oder einen Aichkäfer erinnert, macht mich in diesem Moment glücklich, obwohl ich ihn noch vor einer halben Stunde unerträglich gefunden und ihm gegenüber behauptet habe, wir alle seien im Grunde unglücklich. Ich fahre nach Neapel, und sofort bin ich glücklich!
Holler staunte. Das Glück füllte ihn warm und ballonartig aus, hob ihn etwas vom Sitz empor und nahm ihm gleichzeitig den Atem.
Weil er lächelnd aus dem Fenster in einen kleinen Bahnhof hineinsah, merkte er nicht, wie Diedrich ihn musterte, wie dieser sein Lächeln zur Kenntnis nahm und sich darüber wunderte und schon wieder, kaum wahrnehmbar, den Kopf über ihn schüttelte. So
Weitere Kostenlose Bücher