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Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Titel: Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Zeiner
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auch schwer, erwachsen zu werden, weil alles schwer ist im Leben. Das Leben im Allgemeinen, davon war Tom Holler ausnahmsweise überzeugt, ist schwer.
    Während er am Nachmittag durch Neapel gelaufen war und eine Herrenboutique gesucht hatte, um Kleider einzukaufen, was sich als unmöglich herausgestellt hatte, weil alle Geschäfte bis sechzehn Uhr geschlossen waren, auch die Friseure, hatte er sich zum ersten Mal seit Monaten auf ein Konzert gefreut. Er würde jemandem vorspielen. Er lief an herabgelassenen eisernen Jalousien vorbei durch das trotz der Siesta lärmende Neapel, das ihn gleichzeitig erschreckte und elektrisierte und ihm auf einmal als ein Sinnbild des Lebens selbst erschien: erschreckend und grausam, verkommen und vital, schön, ungerecht und egoistisch und zum Untergang bestimmt, aber er hatte gelächelt und gedacht, dass es ihm egal sei, denn er würde für jemanden spielen. Lange Zeit stand er an einer breiten, vielspurigen Straßenkreuzung unweit des Hotels Marina am Lungomare, die er nicht überqueren konnte, weil kein Auto sich von den Lichtsignalen einer Ampel aufhalten ließ, und wartete, das unerreichbare delphingraue Meer im Blick, dessen Salzgeruch er zwischen den Autoabgasen mehr erahnte als roch, und er dachte, dass er sich zum ersten Mal seit langem auf ein Konzert freue, worüber er sich freute. Lange blieb er an der Ampel stehen und betrachtete über die Straße hinweg das Meer.
    Am frühen Abend saß er in der Garderobe des Teatro Augusteo und sah viele Minuten lang unverwandt geradeaus in den Spiegel, und wieder bemerkte er nicht Diedrichs Gesicht, dasrund wie ein Zifferblatt in der Scheibe stand und ihn nachdenklich betrachtete. Es sei Zeit, sagte er.
    Als er in den Lichtraum der Bühne trat, war es, als komme er in ein Zimmer, in welchem jemand saß und schon lange auf ihn wartete. Sehen konnte er nichts außer dem Licht und dem blendenden Dunkel, das von ihm ausging, aber trotzdem blickte er in diejenige Region des schwarzen Raums, in der er Reihe vier vermutete. Der Applaus verklang, und die Stille wuchs an, die lebendige, gebändigte Stille vor dem ersten Ton.
    Er spielte. Er spielte vor. Sie saß ihm gegenüber, die Lider halb geschlossen, in einem Sessel. Eigentlich erwartete er ihren Gesang. Mit seinem Klavierspiel errichtete er ein Zimmer, vier Wände, die er um sie beide herumzog. Aber es gab Fenster, die er spielend öffnete. Und dahinter die Landschaften, von den Morgenaufgängen durchglüht. Die Winterstille über einem See. Die Nacht mit Mond und Sternen. Und während er spielte und improvisierte, war es, als zöge er all diese Landschaften wie zweidimensionale Bühnenprospekte vor ihren Fenstern vorbei. Dann schloss er die Fenster und schlug ein Buch auf und las ihr die alten Geschichten. Ein Tango, natürlich in Moll, e-Moll (Diedrich: »You can’t beat e minor«), »T’aspetto e nove, ich erwarte dich um neun«, und während er sich immer mehr von der Grundtonart entfernte, sich vom punktierten Rhythmus löste und in freie Jazzpatterns überging, erzählte er ihr vom verzweifelten Liebhaber, der Abend für Abend, Jahr für Jahr, um neun sich an alter Stelle einfindet, um auf seine Geliebte zu warten, die längst nicht mehr kommt.
    Im Dreivierteltakt berichtete er von der »Passione amara«, einer bitteren, einer ewigen, weil nie erfüllten Sehnsucht, von einer Trunkenheit, ohne je zu trinken, erzählte er ihr, indemer manchmal den Takt so sehr verzögerte, dass die Verbindung zwischen den Tönen abriss, dass sich die Stille zwischen sie schob, die bloße leere Zeit, die zu stehen, kurz Atem zu holen schien, bevor der Walzer fortfuhr, umso wilder zu tanzen, als wisse er plötzlich um diese Zeit. Und er fügte noch einen Epilog in Dur an, der die Melodielinie des Chorus in ihrer harmonischen Umkehrung wieder aufnahm, der ihm plötzlich eingefallen war und als das Zwingendste überhaupt erschien.
    Diedrichs Ansagen überhörte er. Er hörte, dass das Publikum wie immer lachte, raunte, aber er wusste nicht, weshalb. Er riss die Fenster auf und deutete hinaus, zeigte ihr alles, was in diesen Liedern verborgen war, und entdeckte plötzlich Dinge darin, die er selber nicht gekannt hatte.
    Zuletzt ein weites, an Beethovens Mondscheinsonate angelehntes Intro, das sich aus einer triolischen Bewegung heraus langsam steigerte, füllte, auffächerte und wie eine Meereswoge sich ballte, anstieg, aufflog und schließlich brach: »Guarda che luna, schau, was für ein Mond!«, will

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