Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
weißen Tischtuch und daneben Wegeners saubere Hand, aber alles, auch das Sofa, schien sehr weit entfernt. Und in seinen Gedanken tauchte sehr langsam der Italienstiefel aus dem meerblauen Hintergrund der Zukunft auf. Er musste nach Hause, er musste die Flugtickets suchen.
»Thomas!«
Er konnte sich nicht bewegen. Nur sein Blick schleppte sich über den Tisch hinweg bis zur Tür. Also werde ich bleiben, dachte er und lächelte. Noch in Jahrzehnten werde ich also hier herumsitzen, wie man auf einer Party herumsitzt, auf dieser sogenannten Lebensparty, in die, weil von irgendjemandem eingeladen oder mitgenommen, man zufällig und ohne eigenes Verschulden hineingeraten ist, so dass man jetzt schon seit bald vierzig Jahren dasitzt, auf irgendeinem Sofa, in irgendeiner Ecke, und langweilige Gespräche führt und sich zusäuft, ohne sich zum Gehen entschließen zu können, vielleicht in der Hoffnung, es könnte noch besser werden, vielleicht aus Bequemlichkeit, weil es irgendwann sowieso vorbei sein wird und das Licht ausgehen und der große Gastgeber bei Sonnenaufgang die Reste beseitigen wird, vor sich hin summend, vielleicht sogar Schumann. Er lächelte.
»Thomas!«
Irgendwie gelang es ihm, den Blick zu heben, die ganze Bleikugel seines Kopfes. »Ja, Liebling?«
»Thomas, du solltest nach Hause gehen!«
»Ja!«, rief er. Und er schnellte vom Stuhl, tippte sich kurz mit zwei Fingern an die Stirn, nickte Lutz Wegener zu: »Machen Sie weiter so«, sagte er. »Immer schön Zähne putzen!« Er drehtesich um, etwas zu schwungvoll, so dass er Probleme hatte, das Gleichgewicht zu halten.
Mitten auf dem Flur saß Callas. Ihre grünen Augen wühlten sich in seine Seele. Er wusste, die Katze konnte Gedanken lesen. Sie fixierte ihn ungefähr eine halbe Minute, bevor sie mit einem entsetzten Schrei in eines der Zimmer zurückhuschte.
»Deine Jacke!«, rief Hedda, die ihm bis zur Tür gefolgt war.
»Ach so«, sagte Holler. »Es ist Frühling.«
»Du übertreibst mal wieder.«
»Er ist nett«, sagte er.
Röte huschte über ihr Gesicht. »Er ist ein Kollege.«
Holler nickte.
»Danke für das Ei«, sagte sie.
»Wirf es weg, gelber Sack, denke ich.« Holler zog die Jacke an und ging hinaus.
»Thomas?«
Er blieb in ihrem Schatten stehen, der auf den Flur in die Februarkälte hinausfiel.
»Callas hat Krebs, deshalb ist sie so komisch.«
»Das tut mir leid«, sagte Holler, der sich aber eigentlich nicht erinnern konnte, dass sie jemals anders gewesen war, und es tat ihm auch nicht leid, weswegen er sich schämte. Er sah, dass Heddas Augen glitzerten, das Zwielicht des Treppenhauses schwamm darin, Flüssigkeit, die stieg und stieg, bis das Wasser auf den Lidrändern balancierte. Er hätte wegsehen müssen, dachte er, diskret, der Moment, in dem die Feuchtigkeit aus dem Auge fällt, zur Träne wird, ist ein äußerst privater, der privateste vielleicht. Stattdessen sah er hin, genoss die Überlegenheit. Plötzlich, die Tränen liefen inzwischen hinab, hinterließen zwei Spuren auf ihren Wangen, streckte Hedda die Hand aus,berührte ihn an der Brust, ungefähr dort, wo das Herz saß, als wollte sie einen Fussel wegzupfen. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, mit einem Ruck, wie um sich fortzureißen von irgendwo, legte ihren Kopf an seine Schulter. Er nahm sie zögernd in den Arm und strich ihr kurz übers Haar, was schwierig war, wegen des Pferdeschwanzes. Er roch ihr neues Parfum. Sie machte sich los, sah ihn noch einmal lange an und glitt mit ihrem Schatten in die Helligkeit der Wohnung zurück. Der Lutz-Wegener-Abend konnte beginnen.
DER GANZ ALLGEMEINE TOD
Der Tod ist das letzte Blatt im Bilderbuch eines uralten Kindes. Ein dünner Pfad, der durch gemaltes Märchengelände führt. Er geht an Berge geschmiegt, halb verborgen von hängenden Pflanzen, für jedes Jahr der Menschheitsgeschichte eine: Waldefeu, Lianen, unendliche Dornbüsche. Er geht inmitten einer schweigenden Vegetation, wandert durch dunkle Täler, über ernst blickende Felskämme, zielt in weiten Bögen auf die andere Seite der Gipfel, verliert sich in blauer Ebene, von keinem Horizont je begrenzt. Und menschenleer ist sein Weg, denn er öffnet sich nur absoluter Stille. Die Lebenden finden ihn nicht. Zu laut sind die Schritte, zu fordernd ist ihr Suchen. Er durchwandert ein Gebiet, von dem niemand ahnt, wo es liegt, von dem niemand ahnt, was darin geschieht. Wie das verlorene Atlantis existiert es neben den Landkarten. Niemand weiß, ob es da ist, und
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