Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
abgeschüttelt. Weniger einem Land, einer Nation schienen sie anzugehören als dem Himmel, der ja auch nicht ein deutscher oder ein italienischer oder ein österreichischer Himmel war, sondern ein allgemeiner. Die schneebedeckten Bergspitzen, die dunklen Karstfalten, die felsige, faltige, kompakte Kühnheit, alles erinnerte Tom plötzlich an eine materialisierte Beethovensinfonie. Je weiter der Schatten des Fliegers über die Schneespitzen in Richtung Süden glitt, desto größer wurde Hollers Erstaunen, ein luftiges Gefühl, das in seinem Innern flirrte und wirbelte wie Blütengestöber im April und einer Aufregung glich, die er lange nicht gehabt hatte. Als flöge er, so fühlte er sich auf einmal, und er flog ja auch.
Die Stewardess aber, die mit einer engelähnlichen, zur übermenschlichen Höhe passenden Freundlichkeit und leise duftend an ihre Sitzreihe herangetreten war, sagte lächelnd, es gebe ab sofort keinen Sekt mehr, weil man sich anschnallen müsse und sich im Landeanflug befinde. Ein strenger Engel.
Ins Fensteroval schob sich die Peripherie von Genua. Das Wetter, wie gesagt wurde, war schön, senza nuvole , und 21 Grad, was eine, fand Diedrich, erhebliche Temperatur war für Anfang März. Und Holler fand das auch. Wieder presste er die Stirn andie Scheibe, betrachtete dieses Genua, das aussah wie ein gigantischer Steinhaufen, der ins Meer gekippt worden war. Aber je näher es sich dem Flugzeug entgegenhob, je deutlicher die übereinandergeschichteten Wohngebiete aus der Tiefe ragten, die an den Hängen aufgestapelten Hochhäuser, ein dichtes beige- und rostfarbenes Aneinander aus Stein und Beton, dazwischen aber, zum Meer hin, die unzähligen Pfeile der Kirchtürme, die seit Jahrhunderten in den Abendhimmel zeigten, desto wilder regte sich in ihm das Gefühl, in Italien zu sein, ein archaisches Erschauern, das so alt sein muss wie die Menschheit, viel älter zumindest als Italien selbst, die Empfindung einer kurz vor der Erfüllung stehenden diffusen Sehnsucht, die, wie man weiß, oft nur wenige Augenblicke anhält. Den einen überkommt sie beim Hören einer besonders schönen Musik, den andern beim Abholen des lange bestellten Neuwagens oder auf lichtüberzuckter Waldanhöhe bei Gewitter. Tom Holler aber hatte sie in diesen Minuten beim Landeanflug über Genua, wo, während die Maschine hinabsank, die Seele, vielleicht aufgrund der Trägheitsgesetze, für einige wenige Minuten in der Luft hängen blieb.
SCHWIEGERELTERNSONNTAG
Ein Sonntag hatte seit den frühen Morgenstunden das gesamte neapolitanische Umland fest im Griff. Auf der Nordtangentiale, die die Stadt mit der Autobahn in Richtung Osten verbindet, stand dichter Ausflugsverkehr. In der Ferne war die Silhouette des Vesuv in einen Schal aus Dunst gehüllt, und der Himmel darüber wölbte sich blau, zerstochert über der Peripherie vonHochhaussilos und dem Geschling der aufsteigenden Betonschleifen, im Westen aber neigte er sich glatt und wolkenlos bis zum Meer hinab.
Gegen das Schweigen, das im Innenraum ihres alten VW-Polos immer lauter wurde, stellte Betty Morgenthal das Radio an. Aber kein Sender war störungsfrei zu finden, außer der lokalen Schlagerwelle. Neapolitanischer Diskopop mit seinen wie aus Plastik gegossenen, orientalisch gedrechselten Synthesizersounds. Sie kurbelte das Fenster herunter, legte ihren Arm in die Sonne und trommelte mit den Fingern den Takt auf dem erhitzten Blech. Frühlingswärme beugte sich ins Auto, strich ihnen über die Wangen und ergriff für keinen von beiden Partei.
Alfredo zog sein Jackett aus, warf es nach hinten auf die Rückbank, atmete lauter als notwendig durch die Nase. Sein Mund, Betty sah ihn im Spiegel der Windschutzscheibe, war ein waagerechter Strich. Sie wusste, dass Alfredo eine Entschuldigung erwartete, einen Blick vielleicht oder wenigstens das Absenken der Stirn, begleitet von einem ratlosen Heben der Schultern, eine Berührung. Aber sie konnte ihm nichts dergleichen anbieten. Sie fürchtete, den Aggregatzustand zu verändern bei der kleinsten ungeeigneten Silbe und zu zerfließen. Schon das Frühstück war schweigend verlaufen, beide in einen anderen Teil der Zeitung vertieft, diesmal hatten sie sich nichts vorgelesen, lachend oder kopfschüttelnd, wie sie es sonst taten, zumal sonntags, sondern jeder hatte sich hinter sein Blatt zurückgezogen, Alfredo mit Lesebrille, die er seit kurzem brauchte, und senkrechten Furchen zwischen den tiefen Brauen, die erahnen ließen, wie er
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