Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
paar Spaghetti zu machen, aber »Pasta con« dauerte vermutlich einfach länger. Holler rauchte. Wegener sagte: »Die vom Barock geprägte sizilianische Architektur.« Holler trommelte mit den Fingern auf seinem Knie. Wegener sagte: »Sie müssen unbedingt den Monte Pellegrino besuchen, wenn Sie in Palermo sind.« Er nickte aufmunternd. Holler nickte auch. »Zu Fuß«, sagte Wegener, »eine herrliche Wanderung, etwa drei Stunden, und«, fuhr er fort, »die Grotte der Heiligen Rosalia.« Holler nickte dankbar. Wegener sagte: »Die Grotte der Rosalia hat ja schon Goethe besucht.« Holler trank einen großen Schluck Wein. Er schnippte etwas Asche in die Vase. Er dachte an Goethe, dachte an seine Deutschlehrerin Frau Gabel, und Wegener sagte: »Normannische Zeit.« Holler stellte das Weinglas ab. Die Tischdecke blendete. Er dachte an das blauschwarze Haar der Gabel, dann nur noch an Schwarz, dann an nichts, wenn nichts etwas ist, und Wegener sagte: »Arabische Zeit«, er sagte »griechische Zeit«, er sagte »elymische Zeit«, und Holler nickte. Die gleichförmige Bewegung seines Kopfes und das ununterbrochene Rauschen der Worte riefen ein Gefühl der Ewigkeit hervor in ihm, als hätte er schon immer nickend hier gesessen, während Lutz Wegener schon immer über die elymische Zeit gesprochen hätte.
Als Wegener sagte: »Sizilien ist ja unter kunsthistorischen Aspekten einzigartig« (Holler verstand nicht den Sinn der einzelnenWorte, hörte nur deren Geräusch), trat aber das rhythmische Klappern von Absätzen immer plastischer aus dem Hintergrund hervor, worauf die Gastgeberin gut gelaunt mit einem Topf »Pasta con Pesto«, sagte sie, erschien und sogar den Zigarettenrauch übersah.
Holler tauchte aus der Ewigkeit auf wie aus einem Goldfischglas. »Ich muss aufs Klo«, sagte er. Er erschrak über die Lautstärke der eigenen Stimme und über die Stille, die scharf an sie angrenzte. Er lächelte entschuldigend, eilte durch den weiten Raum, indem er die Aufmerksamkeit Heddas und Lutz Wegeners hinter sich herzog, und trat auf den Flur hinaus. Nachdrücklich öffnete er die Badezimmertür und schloss sie von außen, schlich weiter bis zur Telefonkommode, sah erleichtert die noch ungeöffneten Briefe, durchwühlte den Stapel mit flatternden Händen, Telekom, Deutsche Bank, Zeit, lauter Rechnungen und ganz unten endlich, zwischen einem Baumarkt-Prospekt, das giftgrüne Zimmerpflanzen zu einem erstaunlich günstigen Preis anbot, und einem H&M-Leporello mit Kindermode, entdeckte er sein altes Sparkassenkuvert. Es war noch ungeöffnet. Er warf einen kurzen Blick in Richtung Wohnzimmer, nichts, er faltete den Brief und steckte ihn in die Hosentasche, dann lehnte er sich mit dem Hintern an die Kommode, die etwas wackelte, fühlte sich plötzlich ebenso wacklig, als trügen ihn die Beine nicht, andererseits musste er jetzt tatsächlich aufs Klo. Er wartete einen Moment, bis er genügend Kraft gesammelt zu haben meinte, und schlich ins Bad, pinkelte im Stehen (kleine Bösartigkeit Hedda gegenüber), vermied es aber konsequent, als er sich die Hände wusch, in den Spiegel zu sehen, ging ins Wohnzimmer zurück, merkwürdig leicht jetzt wie ein Stofftier, aus dem man die Füllung herausgeschüttelt hat.
Auf einmal hatte er keine Lust mehr, nach Hause zu gehen, hatte eigentlich mehr das Bedürfnis nach Gesellschaft, außerdem unterhielt man sich schließlich ausgezeichnet, wie er sich sagte, also erwog er zu bleiben. Als er im Türrahmen stand, um sich zu verabschieden oder zu bleiben, sah er Folgendes: Es ging ein Blick von Hedda zu Lutz Wegener, es knüpfte dieser Blick ein rosafarbenes Band von ihr zu ihm und wieder zurück.
Sie hatten ihn nicht kommen hören und erschraken, als er den Stuhl rückte, um sich zu ihnen zu setzen. Der Blick zerriss. Schnell wünschten sie einander einen guten Appetit und begannen zu essen. Hedda und Wegener entfalteten in einer synchronen Bewegung ihre Servietten und legten sie auf die Knie. Ein Kerzenleuchter streute unruhiges Licht über den Raum. Holler stellte sich vor, das Kind von Hedda und Lutz Wegener zu sein. Ein etwas ungeliebtes, weil zu dickes oder unbegabtes Kind schöner und perfekter Eltern.
Die »Pasta« schmeckte, wie er fand, nicht gut. Aber Wegener lobte alles sehr. Holler, das Kind, schwieg, aß und spürte plötzlich den Hunger, meinte tagelang nicht gegessen zu haben, jedenfalls konnte er sich an kaum eine Mahlzeit erinnern, einen Döner und eine Falafel irgendwann, vor Tagen.
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