Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Gebäuden hing bleierne Helligkeit, die nicht von der Sonne herzurühren, sondern aus dem Beton der Straßen aufzusteigen schien.
Während sie übers stille Wasser blickten, dröhnten Technobässe mit dumpfem Druck in den Gehörgängen nach. Der Zigarettenrauch in ihren Kleidern, in ihrem Haar, umschloss sie noch immer, eine Hülle aus abgestandener, verbrauchter Nacht. In einem illegalen Kellerclub in Mitte, der sogenannten »Donnerstagsbar« (kurz »Dobar«), hatte Marc zwei Theaterwissenschaftlerinnen mit einer Selbstverständlichkeit angesprochen,mit der Tom nicht einmal Brötchen einkaufte, woraus sich, abgesehen von einem Gespräch über feministische Filmtheorie, aber nicht viel ergeben hatte, was nicht weiter schlimm gewesen war.
»Hättest du Lust, meine Klavierschüler zu übernehmen?«, fragte Marc auf einmal. Er sah seine verschränkten Hände an, die über das Brückengeländer ragten. »Eigentlich wollte ich nicht, dass sie jemand verdirbt, während ich weg bin.«
»Schreibst du mir?«, fragte Tom, nachdem er den Zettel mit den Telefonnummern eingesteckt hatte. Der Schatten eines Vogels strich glatt übers Wasser.
»Ich schreibe keine Postkarten«, sagte Marc. »Die Post ist langsam, dazwischen kann viel passieren. Ich erklär es dir ein anderes Mal.« Dann hob er die Hand an Toms Schulter, rüttelte sie kurz, strich sich das Haar aus der Stirn, drehte sich um und ging pfeifend durch den Morgen davon. Vogelgezwitscher fiel von den kahlen Bäumen.
BRIEFFREUNDE
Aber es kam doch ein Brief an von Marc. Nichts stand darin über sein neues transatlantisches Leben, sondern, so nannte er es, Gebrauchsanleitungen für die einzelnen Klavierschüler, von denen Frau Hermanns, ansässig im Dahlemer Villenviertel, bald Toms Lieblingsschülerin wurde. Ihr Bild verfolgte ihn noch lange, nachdem sich nach der ersten Unterrichtsstunde mit der hohen Eichentür die ruhige Kühle des Hauses um sie geschlossen hatte wie ein Tresor.
Ihr Mann, so stand es in Marcs Brief geschrieben, Managereines internationalen Konzerns, war selten daheim, und da die Kinder inzwischen eigene Wege gingen, hatte sie sich einen neuen Zeitvertreib gesucht, der die stockenden Nachmittagsstunden zwischen Zierkirschen und Wohnzimmersitzgruppe im riesigen Anwesen verscheuchte: das Klavierspiel. Sie sei nicht unbegabt, aber man müsse sich vor ihr in Acht nehmen, sonst ziehe sie einen mit Hilfe ihrer kurzen Röcke in eine geschmückte Leere hinein, in der man vergehe wie ein Streichholzflämmchen in einem Vakuum. Auch sei sie eine begnadete Schauspielerin, sei aber unter ihrem Schauspielerinnenkostüm in Wahrheit die tragische Figur der Post-Postmoderne zwischen Einbauküche, Toaster, Viersternegefrierfach und Kontoauszug, das Symbol des gegenwärtigen Menschen, der sich von innen her aushöhlt, sich entvitalisiert, also letztlich opfert, um sich in die Reihe seiner Haushaltsgeräte und Dinge einzugliedern, so Marc aus Übersee.
Sie empfing ihren neuen Lehrer höflich, aber so, als nähme sie nur seinen Umriss wahr, die Chiffre eines Klavierlehrers, aber nicht ihn selbst. Er fühlte sich gläsern und leer in ihrer Gegenwart, als flösse ihr Blick durch ihn hindurch, ohne Notiz von ihm zu nehmen.
Frau Hermanns war von undefinierbarer Jugendlichkeit. Als sie im weiten Flur auf ihn zugeschritten kam, erinnerte sie ihn an jene, aus deutschen Krimiserien bekannten, ebenso schönen wie mysteriösen Witwen mit dem melancholischen Blick, wie er durch eine große Trauer oder eine große Schuld entsteht. Ihr Mann aber war keinem Verbrechen zum Opfer gefallen, sondern in diversen Konzernzentralen oder Hotelzimmern oder an anderen Orten untergetaucht. In der Fotosammlung auf dem Rücken des Steinwayflügels befand sich auch ein Bild von ihm.
»Das ist Volker, mein Mann«, sprach sie. Sie sagte es lächelnd, als sie nebeneinander am Steinway Platz nahmen. »Das ist mein Sohn, meine Tochter. Sie studieren beide in den USA. Udo studiert BWL, Patrizia macht Schauspiel.« Außerdem die Fotos der Irish Setter, Raffael, genannt Raffi, Leonardo, genannt Leo, und Nelson, genannt Nelson.
Als er das bereits aufgeschlagene Notenheft, die Kinderszenen von Schumann, durchblätterte, konnte Tom es nicht verhindern, dass sein Blick einmal auf die Knie seiner Schülerin fiel, die unter dem Schlitz des beigefarbenen Rocks plötzlich in einem keilförmigen Ausschnitt sichtbar wurden. Die Beine, von einer Seidenstrumpfhose beglänzt, waren muskulös und gut geformt,
Weitere Kostenlose Bücher