Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
berichtete und von ihrer großen Traurigkeit. Er schrieb einen zweiten Brief, in dem er vom Lieblingsschüler seines Freundes berichtete, Priv. Doz. Dr. Winfried Breitenbach, der, wie er der transatlantischen Gebrauchsanleitungentnommen hatte, ein genialer Kauz war, Schopenhauer- und Nietzscheexperte, dazu Mittelalterkenner, und in seiner Habilitationsschrift übrigens die Geschichte der Liebe (!) behandelt habe, weshalb Tom immer gut zuhören solle, so Marc aus Übersee, wenn er spreche, denn Breitenbach, wenn auch erst seit einem Jahr Klavier spielend, wisse doch theoretisch alles über Musik, und wahrscheinlich wisse er auch alles über die Liebe; zwar sei er Junggeselle, habe vermutlich nicht einmal je eine Freundin gehabt, wisse aber theoretisch alles über die Liebe, wie anzunehmen sei, obwohl oder eher weil er sie nicht kenne.
Und Tom hörte zu, wenn der an einen aufrecht gehenden Hasen in Secondhand-Kleidung erinnernde grünbeige Mann sprach, mit seinem buttrig angeschlagenen rollenden R, und er schrieb es auf für Marc, denn er hatte das Gefühl, nur indem er es seinem Freund mitteile, sei es auch geschehen. Sei er lebendig, lebe er. Er beschrieb die Stunden in plastischer Deutlichkeit, wie für einen Blinden: Den hasenartigen Professor, wie er an einem verschwindend kleinen Nierentischchen sitzt, das schon fast wieder modern ist, ein Bein übergeschlagen, von dem ein Streifen bläulich weißer Haut sichtbar wird unterhalb des Hosenrandes, ein paar unordentliche Fäden, die vom beigefarbenen Flanell fransen. Vollkommen unbehaarte Beinhaut zwischen Flanellstoff und Strumpf, wie auch die Arme und Hände vollkommen unbehaart waren. Wie seltsam es sei, schrieb Tom, sich vorzustellen, dass dieser grünbeige Körper unter seiner Kleidung nackt sei. Und wie er wohl beim Duschen aussähe, das habe er sich immer und immer wieder vorstellen müssen, schrieb Tom, während der grünbeige Professor über den Unterschied von Dur- und Molltonarten gesprochen habe. Wie es käme, dass wir beimHören eines Molldreiklangs einen traurigen, beim Hören eines Durdreiklangs aber einen fröhlichen Eindruck hätten. Ob es wahrlich nur an jenem Halbtonschritt liegen könne, der minimalen Differenz zwischen einer kleinen und einer großen Terz. Und was genau diese minimale Differenz, dieser winzige Millimeter im menschlichen Gemüt bewirke? Traurig oder fröhlich? Und was das überhaupt sei? Und wie erstaunlich es weiterhin sei, habe er gesagt, dass ausgerechnet wir, die Deutschen, die, wie man sage, Schwermütigen, Grüblerischen, die zur Ausgelassenheit Unfähigen, in unserer Volksmusik im Gegensatz zu allen anderen europäischen Volksmusiken auf die Dur-Tonarten abonniert seien. Während alle übrigen europäischen Musikstile, die italienische Canzone, der portugiesische Fado, die russische Romanze, der spanische Flamenco, die französische Musette, der finnische Tango, ganz zu schweigen von der orientalischen Tradition (und sogar die südamerikanische Musik wie der Tango oder der Son, auch der Bossa Nova übrigens), während all diese Musiktraditionen die Moll-Tonarten bevorzugten, sei die deutsche Volksmusik ja fast durchweg in Dur. Ob das nicht erstaunlich sei? Man könne es sich nur so erklären, schrieb Tom, denke Breitenbach, dass die Deutschen die Musik nicht als Ausdruck ihrer selbst sähen, sondern als einen Verdrängungsmechanismus. Eine Art gigantische Unterhaltungs- und Verdrängungsindustrie sei die deutsche Volksmusik, und je depressiver das Volk, desto fröhlicher, marschmäßiger, vorwärtsgewandter sei die Musik, optimistisch bis zur Hysterie. Breitenbach habe dann geschwiegen, habe einen großen Schluck Tee genommen, habe mit zusammengekniffenen Augen hinter den spiegelnden, stark vergrößernden Brillengläsern knapp über den Rand der Tasse hinausgeblickt, die Tasse an die Lippen gedrückt. Das Tickender Wanduhr. Vor dem Fenster das Picken eines Spechts. Breitenbach schien ganz in das Ticken und Picken der Zeit und der Natur versunken gewesen zu sein, denn kaum merklich nickte er dazu. Dann stellte er seine Tasse auf seinem Oberschenkel ab, schob mit der Handfläche seine Brille an beiden Gläsern hinauf, bevor er endlich fortfuhr. Während die übrigen Volksmusiken, so er, dem Sänger ein Bewusstwerden, ein reinigendes Innewerden seiner selbst ermöglichten, sei die deutsche Volksmusik ein Mittel zur Selbstvergessenheit. Eine aufputschende Narkose. Wieder führte er die Tasse an die fleischigen Lippen, sog den
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