Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Tee schlürfend durch die Zähne. Ob es Marc auch schon aufgefallen sei, schrieb Tom, wie sehr Breitenbach schlürfe! Er selbst jedenfalls habe plötzlich einen Lachanfall niederkämpfen müssen, während Breitenbach über Nietzsches Philosophie des Vergessens gesprochen und immer wieder laut geschlürft habe. Das Vergessen sei, habe er erklärt, laut Nietzsche ja kein Defizit, sondern ein aktives, also positives Hemmungsvermögen, das die Überlagerung der Gegenwart durch die Vergangenheit unterbinde. Vergessen und Erinnern seien demnach die Werkzeuge, mit denen wir aus der Zeit, aus dem unförmigen gigantischen Felsen Zeit, unser persönliches Lebensrelief herausmeißelten. Schlürf. Was gefährlich sei. Und die deutsche Volksmusik helfe dabei. Sie helfe, alles Subversive, alles Tiefgründige, alles Kontraproduktive, alles Individuelle zu vergessen. Schlürf. So in etwa. Mehr habe er sich nicht merken können.
Und im nächsten Brief beschrieb er Marc die Erinnerung an die Mentholhitze auf seiner Wange, die er wieder zu spüren gemeint hatte, als er am darauffolgenden Donnerstag fünf Minuten vor der Zeit vor dem Hermannschen Gartentor gestanden und erwogen hatte, einfach zu verschwinden, worauf sich aberdie Tür geöffnet hatte, es kein Zurück mehr gab und er, begleitet von sabbernden Hunden, über den sanft kieselnden Weg zum Haus gelaufen war, wo ihm die Klavierschülerin gastgeberisch die Hand reichte, als hätte sich diese niemals kühlbrennend oberhalb seines Halses befunden. Ihr wippendes Becken, das ihm voranging. Der schmal geschnittene Rock, der eine Handbreit über dem Knie endete, mit Schlitz, aber diesmal hinten, etwas länger als zuletzt, die senkrechten Linien links und rechts der Kniekehlen, ohne Strumpfhosen diesmal, und wie er sich mit seinen Blicken ertappt fühlte, schrieb er, als sich Frau Hermanns mit einer melodischen Halbdrehung im Gehen umwandte, zwinkerte und rief, dass sie geübt habe, er werde es ja gleich sehen. Und wirklich, Tom staunte, als er neben ihr am Flügel saß, auf dem seine Schülerin das gesamte Stück fehlerfrei und mit Gefühl herauf- und herunterspielte. Sie phrasierte sinnvoll, schloss dabei manchmal voll Hingabe die Augen, und erst als sie ihre Hände in den Schoß legte, merkte Tom, dass sein Mund offen stand.
Die Töne hingen noch zwischen ihren Köpfen, segelten nur zögernd durch das geöffnete Fenster hinaus, wo die Vorhänge sich im leichten Wind bauschten. Bald war Frühling. Frau Hermanns würde Eier färben, sie würde bunte Sträuße in Terrakotta-Vasen platzieren, würde mit nackten Beinen auf einer Segeltuchliege im Garten liegen und halbgelangweilt eine Illustrierte durchblättern, die Sonnenbrille dann abnehmen und mit gesenkten Lidern den Kuss ihres Gatten erwarten, hatte er gedacht, schrieb er Marc. Und er dachte eine Farbe: Hellgrün. Er schloss den Mund. Er war etwas trocken geworden.
»Das haben Sie toll gespielt.«
Die Klavierschülerin lächelte in die Ferne des Gartens. EinLächeln wie ein streng gesichertes, hinter Panzerglas hängendes altes Gemälde, von Rissen durchquert. Und es krampften sich die Hände in ihrem Schoß zu Fäusten, die Fingerknöchel wölbten sich weiß unter der Haut, ergaben eine Kette heller Hügelchen. Das Glas splitterte. Ihr Kopf fiel in ihre Hände, die sich schnell wie ein Fächer vor ihrem Gesicht ausbreiteten. Reflexartig legte Tom seine Fingerkuppen auf ihren Arm, und als hätte jemand ein Korsett entfernt, kippte ihr Oberkörper dem seinen entgegen, sank ihr Kopf an seine Schulter. Tom führte seine Hand durch die Luft, ließ sie unentschlossen über ihrem Haar kreisen. Aber ihre Wirbelsäule streckte sich abrupt, und Frau Hermanns strich sich mit beiden Handrücken über die Wangen, wobei sie zwei blaugraue Schlieren ihrer Wimperntusche hinterließ. Es tue ihr leid, flüsterte sie, dann lächelte sie, ihre Mundwinkel hüpften, wie das Zucken von Insektenbeinen.
»Nein«, sagte Tom, »nein«, ohne zu wissen, was er eigentlich damit meinte, und plötzlich lag seine Hand auf ihrer Wange. Mit dem Daumen versuchte er, die dunklen Schminkestreifen wegzuwischen. Sie blickte ihn an, voll Staunen, und unvermittelt vergrub sie ihre Finger in seinem Nacken, wühlte sie kühl und bebend in sein Haar, und wieder hinterließen sie eine Mentholspur, und hier endete der Brief, weil Tom nichts über das Folgende schreiben konnte, über ihre Murmelaugen, ihr Gesicht, das noch immer in Verwunderung war, so als wäre er es, der
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