Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
räusperte sich, »… das mit dem Stipendium ist toll!«
Marc aber blies den Rauch in Richtung Tischplatte.
Weil er Lust hatte, etwas zu laufen, wie er sagte, spazierten sie durch die nachtfeuchten Straßen, an deren Rändern die schwarzen Kulissenwände der Häuser standen, von Licht durchlöchert. Straßenbahnen kreuzten und zerfurchten hell die Nacht. Grünstichige Dönerreklamen. Sie redeten viel, Belanglosigkeiten, Albernheiten, als ob sich ein ernsthaftes Gespräch nicht mehr lohnte, angesichts des nahenden Abschieds. Trotzdem dehnten sie den Abend aus bis in den Morgen, so lang, bis die Nacht dünn wurde. Sie aßen Pommes und tranken Dosenbier. Zählten die Namen und Haarfarben ihrer verflossenen Freundinnen auf, bei Marc waren es mehr, bei Tom weniger, obwohl er wirklich alles mitberechnete, was ihm einmal einen Kuss oder auch nur einen tieferen Blick anvertraut hatte. Sie benannten die Berufe, die sie hatten ergreifen wollen: Lokomotivführer (Marc), Lokomotivführer (Tom), Anästhesist wegen der Drogen (Marc), Dirigent wegen der Frauen (Tom), Holzfäller wegen des Waldes (Marc), Musiker wegen der Musik (Tom), Schreiner wegen des Erschaffens (Marc). Aber als sie im Humboldthain auf dem Flakturm standen, der höchsten Erhebung des Parks, einem tagsüber stark frequentierten Aussichtspunkt, in dessen Innern sich aber ein ehemaliger, für 350 Personen Raum bietender Luftschutzbunker aus dem Zweiten Weltkrieg befindet, wie Marc Tom erklärte, der es gar nicht gewusst hatte, und als sie rauchend über den schlampig daliegenden, von der Dunkelheit der Parks und Grünanlagen und Brachen und stillgelegten Fabrikenzerrissenen Lichtteppich der Stadt hinweg zum blauschwarzen Horizont blickten, erzählte Marc scheinbar unvermittelt, vielleicht weil das Stehen auf einem Aussichtsturm und das Hinausblicken auf den Horizont die Gedanken über Alltägliches hinaushebt oder das Thema passend erschien, seine, wie er es nannte, Wunsiedel-Geschichte. Er rauchte. Er lehnte mit der Stirn an der Eisenvergitterung, die Selbstmörder davon abhalten sollte, sich in die Tiefe zu stürzen. Er blies den Rauch seiner Zigarette in die Nacht. Die Glut knisterte, als er zog.
Es sei sein Abiturjahr gewesen, sagte Marc. In der Schule, wie mehr oder weniger in allen Schulen, habe es damals einen politischen Aktionskreis gegeben, dem er angehört habe. Dieser politische Zirkel habe im Sommer 1988 anlässlich des zum ersten Mal stattfindenden Rudolf-Heß-Gedenkaufmarsches eine Busreise ins nahe gelegene Wunsiedel organisiert, um den Nazis eine Demonstration der Guten entgegenzusetzen. Marc, zur selben Zeit in eine äußerst politische Mitschülerin namens Tamara verliebt – »dunkelrotes Haar«, warf Tom ein, Marc nickte und lächelte –, er selbst, wie er sagte, habe sich lautstark für die Busexpedition nach Wunsiedel eingesetzt, ja habe sie selbst eigentlich initiiert, die Presse informiert, die Busse bestellt, und alles – natürlich auch wegen der Nazis – hauptsächlich aber, wie er Tom gegenüber zugab, wegen der dunkelroten Tamara.
»Klar«, sagte Tom.
»Klar«, sagte Marc. Am Heß-Todestag dann, fuhr er fort, und er zündete sich eine neue Zigarette an und gab auch Tom Feuer, am 17. August, habe er sich am Vormittag noch schnell ans Klavier gesetzt, einige Skizzen durchprobiert, die er habe ausarbeiten wollen, und sei im Spielen immer weiter in die Musik hineingeraten, wo er nicht so schnell an ein Ende gekommen sei,so dass er auch das Telefon überhört beziehungsweise ignoriert habe, und als er in die Küche gegangen sei, um einen Kaffee aufzusetzen, habe er mit Bestürzung feststellen müssen, dass es vier Uhr am Nachmittag gewesen sei und er den Heß-Aufmarsch und das Gute und auch die dunkelrothaarige Tamara einfach vergessen habe.
»Mit Tamara war es dann jedenfalls aus«, sagte er. »Und ich hab beschlossen, eine Schreinerlehre zu machen. Bloß nichts mit Musik.«
»Aber du bist nicht Schreiner geworden.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Tja, warum nicht.« Marcs Blick ging in den wolkenverhangenen Stadthimmel hinauf, der das elektrische Licht reflektierte. »Wahrscheinlich weil mein Vater gestorben ist. Und ich hab gedacht, jetzt ist es auch schon egal. Es ist kalt«, sagte er. »Lass uns irgendwo Frauen ansprechen.«
Als der Morgen kam, standen sie auf der Brücke am alten Museum. Beobachteten, wie sich das pechschwarze Wasser rot färbte, wie auf dem Asphalt des Ufers das flache Licht ausfloss. Zwischen den
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