Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Dunkelheit hineingetrieben. Holler ging auf das Licht zu. Es war die vierspurige Autostraße, die am Meer entlangführte. Er überquerte sie, unachtsam, was ihm erst auffiel, als ein langes Hupen an ihm vorüberdröhnte. Er stand da, rauchend, und sah aufs Meer, wie unzählige Menschen zu allen Zeiten aufs Meer hinausgesehen haben, aber ohne die typischen Gedanken, die aufs Meer hinaussehende Menschen sich zu allen Zeiten gemacht haben, Gedanken über das Allgemeinste, das immer auch das Persönlichste ist, Leben und Zeit und Ewigkeit. Holler dachte nur: Aha, das Meer . Das Meer erinnerte an eine schwarze Teerschicht, die hinter geduckten Hafengebäuden lag. Kräne ragten wie Gerippe in den von Positionsleuchten erhellten Himmel. Und kein Stern machte sich die Mühe, gegen das Menschenlicht anzuscheinen. Wie leblos und kalt der Nachthimmel war. Hätten die Menschen immer schon in erleuchteten Städten gewohnt, dachte er auf einmal doch allgemeinpersönlich, sie wären nie auf die Idee eines Gottes gekommen. Er ließ sich auf eine Bank fallen. Er dachte an den Himmel in jener einzigen Nacht. Als sie die Sterne betrachtet hatten wie ein geliebtes Fotoalbum. Den Himmel, hoch und fern und doch vertraut und belebt über den nahen Zweigen eines alten Eukalyptusbaumes.
Er hatte auf dem Rücken gelegen, in Hüfthöhe hatte ihm eine Baumwurzel ins Steißbein gedrückt, aber die Nacht war zu erhaben gewesen, um sie durch die geringste Bewegung zu stören. Durch die Baumzweige hinauf hob er seinen Blick ins hohe Schwarz, durchglüht von den fernen Lichtern, die atmeten undpulsierten, als zwinkerten sie. Sie sehen uns zu, könnte man denken, dachte er, und in diesem Moment war da ein Geräusch, ein katzenartiges Rascheln, Bettys weicher Indianergang, und sie lag neben ihm, ohne dass er die Bewegung hätte hören können. Ihre Blicke gingen nebeneinander, Hand in Hand, in den Himmel hinauf. Die Baumwurzel im Rücken aber war hart und eine Vergewisserung der Wirklichkeit, während sich die Sterne aus ihren Verankerungen lösten dort oben. Sie zitterten, schienen auf die spiegelnde Wasserscheibe hinabzufallen.
Sie atmeten kaum. Das Schweigen dehnte sich aus zwischen ihnen, eine Decke, auf der sie beide liegen könnten bis ans Ende des Universums. Zumindest Tom, Baumwurzel hin oder her. Er würde sie durchliegen, würde sie in den Boden hineinliegen, wenn nur Betty neben ihm bliebe. Eine Woge klatschte ans Ufer, ein Wind in den Zweigen, dann ein großes Innehalten. Sie waren in einem oberitalienischen Landschaftsgemälde.
Er schloss die Augen. Sein linker Arm lag neben seinem Oberkörper, zwei Zentimeter bis zu Betty. Er spürte die Wärme ihrer Haut. Ein Rascheln, kaum hörbar, und ihre Finger auf seinem Handrücken. So lagen sie, und die Zeit trat aus ihrem Referenzsystem, wobei sie sich ins Unendliche dehnte und krümmte, um sich in den eigenen Schwanz zu beißen. Sie lagen seit Ewigkeiten nebeneinander, als gäbe es keine andere Wahl. Der freie Wille war ein Märchen. Diese Hand aber gehörte in jene, ein Naturgesetz, eingeschlossen in die dunkle Materie, lange vor der Ausdehnung des Raums.
Dann war sie verschwunden. Die Wärme ihrer Hand hatte wie ein Lichtsignal noch auf Toms Haut gelegen, als Betty mit einem stockenden Geräusch den Reißverschluss von Marcs nagelneuem Zwei-Personen-Outdoorzelt geöffnet und wiedergeschlossen hatte, in der Dunkelheit des Campingplatzes »Gardenia – Como sul Lago«. Tom hatte dankbar den Sternen zugezwinkert, als wäre die Berührung deren Verdienst gewesen. Er hatte seinen Oberkörper ein wenig verrückt, hatte mit dem Steiß über den trockenen Boden voller Baumwurzeln geschabt und endlich eine bequemere Position gefunden. Dann war das Schicksal in den See gestürzt, in Form einer Sternschnuppe. Er hatte die Augen geschlossen und sich etwas gewünscht, das um freie Bahn, günstige Vorsehung, Liebe kreiste. Daran war nichts zu ändern, auch wenn er inzwischen zu wissen glaubte, dass alles aus Zufall geschah und es nicht die Sterne waren, an deren Zacken die Fäden der menschlichen Geschicke hingen.
DAS ZIMMER DES WESENTLICHEN
Als sich am Montagmorgen die Milchglastür hinter ihr schloss, tauchte Betty in ihr Element. Tiefe Ruhe herrschte, unterbrochen nur von vereinzelten elektronischen Signalen, vom vorbeigleitenden Weiß der Schwestern, die mit ihren Kreppsohlen feine Klebegeräusche auf dem Fußboden erzeugten und doch zu schweben schienen wie helle Schatten durch die
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