Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
sie war, aber Frau Hermanns lächelte nur und nickte professionell, als sie das Stück durchsah, indem sie mit einer musikalischen Handbewegung zwei über die Stirn hinabfallende Haarsträhnen zurückstrich. An Marc schrieb er:
»Wer bin ich, wenn sich niemand an mich erinnert? Werde ich einmal gewesen sein, wenn ich einmal nicht mehr bin? Werde ich existiert haben, wenn sich niemand meiner erinnert? Existiert nicht nur das, woran sich irgendjemand auf dieser Scheißwelt erinnert, das, was von irgendjemandem in die Krämerschubladen der Weltgeschichte hineingetan wird, und der Rest ist nicht geschehen?
Lieber Marc, Du hattest recht. Hermanns is a bitch!
Bitte komm bald wieder, nächstens mehr,
Tom«
Aber Marc kam nicht vor dem Herbst. Und der Sommer verging langsam, rieselte feinsandig durch die gläserne Enge. Frau Hermanns aber harkte ihre scheinbar willkürlichen Markierungsrillen hinein, indem sie Toms dahinfließendes Leben in Klavierstunden mit und Klavierstunden ohne Körperkontakt einteilte.
AHA, DAS MEER
Und Betty? Was tat sie, bevor sie die Wege der beiden Freunde kreuzen würde – auf den hellen Kiespfaden des Hermannschen Gartens – mit der Unabänderlichkeit schief zueinander stehender Geraden? Was tat sie in jenem langsam verrieselnden Sommer 1992?
Sie saß in einer Universitätsstadt namens Tübingen, und eventuell erklärte sie ihren Eltern beim Nachmittagskaffee, dass sie niemals Ärztin werden würde. Dass sie ihr Medizinstudium an den Nagel hängen werde, was sie seit längerem erwogen, nun aber beschlossen habe, endgültig, um sich für das Fach »Gesang« einzuschreiben. Zu diesem Zweck werde sie nach Berlin gehen, wo sie bereits die Aufnahmeprüfung an der Hochschule für Musik »Hanns Eisler« bestanden habe. Schon im Herbst wolle sie umziehen, sagte sie, eine Wohnung werde sich finden, man solle sich also bitte keine Sorgen machen, dies sei ihr Leben. Die Eltern hingegen, denen sie danke für alles Mögliche, lebten eben wieder ein anderes. Im Übrigen sei sie alt genug mit ihren vierundzwanzig Jahren.
Friedhelm und Erika Morgenthal aus Tübingen, die Eltern, denen in Gedanken die ganze schöne eigene Praxis voller Privatpatienten in ein Nichts zerbröselte, hatten einander angesehen, stumm. Der Vater hatte mit kratzendem Geräusch seine Gabel über den Teller geführt, hatte aus den Baumkuchenkrümeln ein Labyrinth kleiner Wälle und Linien auf dem Porzellan errichtet. Die Mutter war sich mit beiden Handrücken schnell über die Augen gefahren, dann hatte sie ein weiteres Mal Kaffee nachgeschenkt, den niemand mehr trank. Lauwarm blieb er in den geblümten Tassen stehen.
Irgendwann war Betty die lange Wendeltreppe hinabgestiegen, war auf die Straße hinausgegangen, um unter Abendwolken ein wenig am Neckar entlangzuspazieren, bis zum Hölderlinturm und weiter. Sie hatte ein Schumann-Lied gesummt, den Text halb murmelnd, während sie auf den Fluss sah, die gekräuselten Wellen verfolgte, kleine flüsternde Lippen, bis zur nächsten Biegung.
Aber das wusste Tom Holler nicht. Er hatte, als er in einer genuesischen Telekommunikationskabine stand, wo die Luft langsam knapp wurde, nur vage, gleichzeitig anwesende Bilder im Kopf, eines über das andere geblendet zu einem intensiven, dichten Farbspektrum, das man auch als Durcheinander bezeichnen konnte. Er hatte Betty nicht erreicht. Eine italienische Damenstimme hatte ihm erklärt, dass die von ihm gewünschte Person derzeit leider nicht zur Verfügung stehe, soweit er es verstanden hatte. Nun hing der Hörer seitlich am Telefon herab, flötete sein endloses fragendes Tuten in die Welt.
Ohne aufzulegen, verließ Tom die Kabine und ging zum Tresen. »Ich habe niemanden erreicht«, sagte er auf Deutsch.
Der Telefoninhaber legte den Kopf schräg.
»I didn’t reach anybody.« Er hatte keine Ahnung, wie man diesen Sachverhalt auf Englisch ausdrückte. »Sorry«, sagte er, und obwohl er ja nichts zu bezahlen hatte, blieb er vor dem Tresen stehen, als gäbe es noch dies oder das zu besprechen, als könne der Mann ihm helfen, als wäre es seine Aufgabe, Auskunft zu geben darüber, weshalb Betty nicht an ihr Telefon ging. An der Wand, hinter dem Kopf des Telefoninhabers, hing ein kleines Buddha-Bildchen, mit ein paar gelben und rosafarbenen Plastik-Blumen geschmückt. Der Buddhalächelte, und auch der Mann, als Holler sich endlich verabschiedete.
Die Gasse, an deren Ende ein helles Licht leuchtete, war als ein schmaler weißer Keil in die
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