Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
dem jungen Kammermusikensemble »novus ensemble« (kleingeschrieben), das sich in heroischer Art und Weise auf die Interpretation zeitgenössischer Musik verlegt hatte, bereits einige Wochen später statt. Die Mitglieder des ensembles (kleingeschrieben) saßen stockgerade im Probenraum, und sie dämpften ihre Stimmen, sobald der Komponist den Raum betreten hatte. Tom wunderte sich über den feierlichen, wesentlichen Ernst, der sie umgab, während sie in der Partitur blätterten, diesen kompromisslosen Musikernst, der sie von der Welt des Mainstream und der Welt der Welt überhaupt abschloss und hinaufhob in der Art einer Baggerschaufel.
Ihren Lebensunterhalt allerdings verdienten die meisten von ihnen, indem sie bei Musicalproduktionen einsprangen, bis dieses Einspringen zur regelmäßigen Abendbeschäftigung wurde und sie im Bühnengraben des »Theaters des Westens« herumlungerten wie andere Leute in ihren Fernsehsesseln, nicht ohne das Empfinden einer gewissen Gemütlichkeit, verbunden mit Scham und dem nagenden Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, stattdessen lieber ein gutes Buch lesen zu sollen, beispielsweise. Und dieses gute Buch war die zeitgenössische Musik. Damit (es war die Partitur eines jungen vielversprechenden Komponisten) saß man stockaufrecht an diesem Freitagabend in einem der schallgedämpften Übungsräume der Hochschule in einem Stuhlkreis versammelt, darin Tom, neben ihm Ulrich, ein Jazzschlagzeuger, den er mitgebracht hatte, der die Knie zusammengedrückt hielt, als ginge es um die Einschulung. Gemeinsam blätterte man ehrfürchtig in den Noten. Der Urheber dieser Noten war ein bisschen aufgeregt, was Tom an seinen Wangenerkannte, die etwas gerötet waren, die Augen ständig in Bewegung.
Es sei, erklärte Marc, ein dreisätziges Stück, wobei diese Dreiteilung lediglich ein Zitat der klassischen Konzertform sei, es handle sich ja gar nicht um ein Klavierkonzert, wie sie sofort sehen würden, vielmehr seien alle Instrumente gleichberechtigt. Es komme ihm auf den Zusammenklang, überhaupt auf die Produktion des Klangs an, zumal im ersten Satz, der die Sprache der Dinge illustriere und die Möglichkeiten des Orchesters, des Klaviers und des Schlagzeugs in einer neuen Richtung ausloten wolle. Es müsse technisch klingen, die Streicher spielten über weite Strecken nicht auf den Saiten, sondern indem sie das Holz des Bogens und des Stegs benutzten, viele Pizzicato-Passagen, abgedämpfte Saiten. Die Blechbläser hielten sich ausschließlich an den oberen und unteren Grenzen ihres Tonumfangs auf, was neue Klangereignisse schaffe, er wolle das Material hörbar machen, auch bei Klavier und Schlagzeug, Holz, Metall, Blech. Der Rhythmus hingegen, der elektronischen Popmusik entlehnt, sei eine repetitive Figur, wobei man ausdrücklich auf den Einsatz von Computersamples verzichte, da man den Effekt der Entzeitlichung auch mit dem herkömmlichen Instrumentarium erzeugen zu können meine, durch die Schichtung gerader, treibender Pattern bei minimalen Verschiebungen, weitmögliche Reduktion.
Der zweite Satz dagegen stelle die Melodie in den Vordergrund, die schwingende Tonalität, Sprache der Natur, die dunkle Gewalt des Lebens. Dissonante Fragmente brächen sich hier wie Sturmwellen an clusterartigen Klanggründen, und man scheue nicht die tonale Melodieführung eines einzelnen Streichers, die wie ein romantisches Zitat daraus aufsteige, durch diefugenhafte Schichtung anderer Stimmen jedoch wieder hinabgezogen werde in das »Geschrattel«, wie Marc es nannte, des düsteren Klangs.
Der dritte Satz, eine leere Seite. Freie Improvisation, eingeleitet durch eine den zweiten Satz abschließende Klavierkadenz, angelehnt auch diese an die klassische Konzerttradition. Aber sie könnten auch nicht spielen, das werde man sehen. Man könne die Zeit auch einfach leer lassen, sagte Marc, je nachdem, wie lange es dauere, auf die Stille hören und das Scharren der Füße im Publikum.
Erstaunte Augenpaare im Stuhlkreis.
»Wie meinst du das: freie Improvisation?«, fragte die erste Geigerin und wackelte kurz mit dem Kopf, eine durchsichtige Person mit farblosem Pferdeschwanz.
»Aufeinander hören oder nicht und spielen«, sagte Marc, »oder auch nicht spielen.« Im Stuhlkreis erneutes Kopfwackeln der Geigerin, als müsste sie eine auf ihrer Backe sitzende Fliege verscheuchen.
»Es ist natürlich ein Experiment«, sagte Marc. »Man weiß nicht, was dabei herauskommt, entweder die einzelnen Stimmen hören aufeinander,
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