Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
folgen auseinander und das Ganze ergibt einen Sinn oder eben nicht: Dann ist es Chaos, Zufall, oder eben nichts, was auch in Ordnung wäre.«
Als sie nach der Probe mit dem Schlagzeuger, Ulrich, und der ersten Geigerin, Marietta, in einer düsteren Kneipe in Mitte saßen, sprachen sie über Kinofilme, Biersorten und die Situation der Neuen Musik. Im Wesentlichen sprachen Marc und Marietta, Tom machte hin und wieder einen Einwurf, Ulrich redete grundsätzlich nicht. Er saß dabei, körperlich anwesend, mit seinemhageren Gesicht und dem kurz rasierten Haar, das als ein scharf umrissener Schatten auf seinem Kopf lag und sich in einer theatralischen Spitze bis in die Stirn zog wie eine Faschingsteufelskappe aus Samt, aber sein Blick ging an den Sprechenden vorbei. Man war sich nie sicher, ob die weit vom Schädel abstehenden Ohren hörten oder nicht. Ein feines Lächeln an entsprechenden Stellen deutete hin und wieder auf ersteres hin, in seltenen Fällen gar ein Kommentar, den er abgab. Er rauchte unablässig, infolgedessen drehte er unablässig Zigaretten, die er eine an der anderen anzündete. Er war Österreicher, er kam aus der Steiermark.
Marietta fand ihn offenbar komisch. Marc hingegen fand sie super, ihre Blicke hingen auf ihm, über ihm, wie ein Fangnetz.
Warum das Publikum nicht in zeitgenössische Musikkonzerte ging, wurde verhandelt, auch nicht die sogenannten Intellektuellen, die sich alles darauf einbildeten, in moderne Theater- und Operninszenierungen, alle Augenblicke in zeitgenössische Kunstausstellungen und Performances zu rennen, nur bei der Musik setze es aus, so Marietta.
»Ich kann sie verstehen«, sagte Marc.
Marietta wusste nicht, wie er das meinte. Wieder saß da die unsichtbare Fliege auf ihrer Wange, die es abzuschütteln galt.
»Es ist einfach zu kompliziert. Wir sind zu kompliziert«, sagte Marc. »Man muss die Musik verstehen können, jeder müsste sie verstehen können. Die Musik muss man hören, und das reicht.«
»Du findest, das reicht?«
»Ich finde, das reicht«, sagte er, und: Ich finde, du bist ein interessantes kleines Ding, sagte sein Blick.
»Ich finde das nicht«, sagte sie. Dann könne man ja gleichFilmmusik machen oder in alle Ewigkeit Wagner und Beethoven nachspielen. Man dürfe aber dem Hörer ruhig etwas abverlangen, ihn fordern, herausfordern zu seinem Glück, seinem schwierigen, aber dafür hochwertigen Musikglück.
Ulrich gähnte und drehte sich eine Zigarette.
»Aber wir haben doch sonst nichts«, sagte Marc auf einmal, mit sternenhaft blinkenden, blankenden Augen. »Wir schaffen doch auch nicht die Liebe ab, weil sie spätromantisch ist.«
»Was?« Marietta schien verwirrt, vielleicht aufgrund dieser Augen.
»Nichts«, sagte Marc. »Vielleicht sollte man einfach Schlagerkomponist werden.«
»A jeder, wie er mog«, sagte Ulrich und blies einen Kringel.
Ob es denn eine Ordnung gebe, fragte Tom seinen Freund, als sie durch die Winternacht nach Hause gingen, im letzten Satz, ob da eine Ordnung sei oder ein Chaos.
Das werde man sehen, er wisse es nicht, sagte Marc.
»Gefällt sie dir?«, fragte Tom, obwohl dies ein ganz anderes Thema war.
»Wer?«
»Du weißt genau, wer.«
»Sie hat einen schönen Ton«, sagte Marc nach einem kurzen Lächeln. Tom aber hielt diese Antwort für eine Ausflucht, denn ein schöner Geigenton, so er, habe allenfalls wenig Einfluss darauf, ob jemand jemandem gefalle oder nicht.
»Was hat denn aber Einfluss?«, fragte Marc
»Ich weiß es nicht«, sagte Tom und sah auf den Asphalt hinab, auf dem der frische Schnee lag wie ein durchsichtiger Damenstrumpf.
Wenn also nicht ein Geigenton, so Marc, dann sei es also was im Einzelnen, das uns gefällt? Eine Nase, ein Augenaufschlag, ein Geruch?
Tom hatte schon oft darüber nachgedacht, wusste es aber auch nicht.
»Ist eine Nase wichtiger«, fragte Marc weiter und beschleunigte den Schritt, »als ein Geigenton?« Oder die Form gewisser, fuhr er fort, aus Keratin und einer Schuppenschicht, soweit er wisse, bestehenden Gebilde, genannt Augenwimpern , ob die beispielsweise entscheidender sei für das Gefallen oder Nichtgefallen einer Person als deren Fähigkeit, ein Musikstück zu interpretieren? Ob deren durch langjährige Übung und Entbehrung und Intellektualität erworbene Virtuosität, deren außerordentliche Befähigung, Musik zum Klingen zu bringen, weniger wert sei als die zufällige Anordnung von Hautzellen namens »Schönheit«, welche man bekanntlich umsonst
Weitere Kostenlose Bücher