Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
zurückbringen können. Langsam lief er weiter.
Ein halbes Jahr vorher habe man bei seinem Vater Krebs diagnostiziert. Er sei operiert wurden, Chemotherapie, mit Erfolg, es sei aufwärtsgegangen, er habe wieder angefangen zu arbeiten und mit seinem Sohn zu streiten, so dass die Mutter regelmäßig heulend zu einer Freundin gezogen sei. Marc grinste. »Wahrscheinlich war es ein Vorwand. Ich wette, dass sie einen Heidenspaß hatten bei ihren Frauenabenden.« Dann wischte ihm der Wind das Lachen aus dem Gesicht. »Als ich Abi hatte, war ich heilfroh, erst mal weg zu sein. Ich konnte es kaum erwarten rauszukommen.« Marc hielt inne, als müsste er die einzelnen Ereignisse sortieren, ein Archäologe vor einer Handvoll Scherben. Tom hörte an der Art seines Einatmens, dass er es noch nicht oft erzählt hatte.
»In Griechenland hab ich ihm dann einen Brief geschrieben«, fuhr er fort, »fünf Seiten voller Buchstaben, ich hab mehrere Tage dran geschrieben, immer wieder von vorn angefangen. Als ich den Anruf bekommen habe, bin ich nach Hause gefahren, und zwei Tage nach der Beerdigung kam mein Brief.«
Marc schwieg, Tom sah sein Gesicht von der Seite, es war hell im Sternenlicht. Auch der in die Nacht führende weiße Bogendes Strandes und die Gischtkronen auf dem Wasser waren unwirklich erleuchtet.
»Damals ist mir aufgefallen«, sagte Marc, »dass jeden Augenblick alles passieren kann. Alles, verstehst du?«
Tom nickte, war sich aber nicht endgültig sicher.
»Wenn ich mich jetzt hinsetze und einen Brief schreibe, dann kann in der nächsten Minute schon alles falsch sein.«
»Vielleicht war es trotzdem gut«, sagte Tom.
»Was?«
»Den Brief zu schreiben.«
»Wieso?«
»Weil du an ihn gedacht hast, vielleicht hat er es irgendwie gespürt.«
Marc zuckte die Achseln. »Er wäre nicht gestorben«, sagte er leise. Dann lächelte er und schüttelte knapp den Kopf, entweder um seine Haare aus dem Gesicht zu bekommen oder eine Erinnerung.
»Es ist lange her«, sagte er in einem Tonfall, in dem man sonst sagt, dies oder jenes sei nur ein Film, eine erfundene Geschichte. Aber vielleicht war ja der Tod nichts anderes als eine solche Geschichte, erfunden und hochgradig irreal.
»Und deine Mutter?«, fragte Tom.
»Oh, sie lebt«, sagte Marc. »Sie hat ihre Arbeit.«
»Was macht sie?«
»Sie haut den ganzen Tag auf Steinen rum. Sie ist Bildhauerin. Zum Geldverdienen meißelt sie Kätzchen und Häschen für finanzkräftige Kleinstadtgemeinden, und als Kunst macht sie riesengroße Klötze und Schrotthaufen, die natürlich niemand haben will, weil alle Vorgärten zu klein sind.« Marc grinste. »Und deine Eltern?«
Tom hatte die Frage befürchtet.
»Es gibt eigentlich nicht viel über sie zu erzählen, außer dass sie sich hassen.«
Marc blieb stehen und lachte. »Das ist doch schon eine ganze Menge.«
WG
Erst einige Monate später, als sein Mitbewohner Björn aus- und Marc in der riesigen, aber spottbilligen, weil heruntergekommenen Vierzimmerwohnung in der Knaackstraße, Klo halbe Treppe, längst eingezogen war und Tom bereits alles ihn selbst Betreffende, die Geschichte seiner Eltern, die Geschichte seiner Herkunft, die Geschichte seiner Geschichte, vor ihm ausgebreitet hatte wie eine detaillierte Landkarte, in der auch das kleinste Seitental nicht unentdeckt bleiben soll, nachdem er sich also mit allen Verwerfungen und Erhebungen und Knicken seines bisherigen Lebens entfaltet hatte, und Marc alles über ihn erfahren hatte, was nicht viel war, aber immerhin alles, erwähnte dieser eines Wintermorgens beim Frühstück in einem Nebensatz, so als sei es eigentlich nicht der Rede wert, dass man ihm während seines USA-Aufenthalts übrigens einen Nachwuchspreis für junge Komponisten verliehen habe.
Tom hatte einen Bissen Brötchen mit Marmelade im Mund, und da er nun in der Kaubewegung innehielt, das Stück aber zu groß war, um es zu schlucken, blieb ihm nichts übrig, als es zunächst zwischen den Backen aufzubewahren und mit der Zunge hin und her zu schieben.
»Du hast was?«, sagte er am Brötchenklumpen vorbei.
»Ich hab den GEMA-Nachwuchspreis bekommen.« Eine längerePause öffnete sich. Zwei, drei dürre Schneeflocken segelten inzwischen vor dem Küchenfenster hinab.
»Wann?«
»Im Sommer.« Marc sagte es beschwichtigend, wie einer, der über seine schwere Krankheit spricht, aber niemanden beunruhigen will.
»Spinnst du?« Jetzt endlich kaute Tom und schluckte dann.
»Wieso?«
»Warum sagst du mir
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