Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
Prolog
Judas Ischariot hatte den Freitod gewählt.
Der karge Baum, an dem sein Leichnam hing, schien von einem
unheilvollen Schleier umgeben. Der Acker ringsum wirkte krank wie die
Haut eines Leprösen. Kein Windhauch regte sich, als hätte das Terrain
um den sterbenden Baum gemeinsam mit dem Toten das Atmen
aufgegeben. Nicht einmal die Krähen ließen sich auf dem gequälten
Geäst nieder, um sich an dem Leichnam gütlich zu tun.
Josef von Arimathäa schirmte die Augen vor dem grellen Licht der
Sonne ab. Ihn fröstelte, denn trotz seiner Kraft vermochte das Licht der Sonne diesen Ort nicht zu erwärmen.
»Nehmt diesen Mann herunter!«, befahl er den beiden jungen Männern,
die er zur Bergung des Toten mitgenommen hatte.
Josef besaß eine Grabstätte in der Nähe von Golgatha. Dorthin hatte er
den Leichnam Jesu gebracht, und dorthin würde er jetzt auch Judas
bringen lassen, in ein kleines Grab unweit davon.
Der Himmel wurde schwarz, als wollte sich jeden Augenblick ein
sintflutartiger Wolkenbruch über Jerusalem ergießen. Doch Josef
bezweifelte, dass auch nur ein einziger Regentropfen zu diesem Acker
vordringen würde. Die beiden Jünglinge kappten den Strick und ließen
den Toten langsam zu Boden. Josef glaubte, den kargen Baum vor
Erleichterung aufatmen zu hören.
»Es ist nicht so, wie du denkst«, hatte Maria von Magdala gesagt und ihn mit ihren alterslosen Augen angesehen. »Sein Schicksal ist auch unser
Schicksal. Wir müssen ihn suchen und finden.«
Also hatte Josef sich auf die Suche begeben und war schließlich hierauf
gestoßen. Auf einen anscheinend von Gott verlassenen Ort, von dem
nicht einmal die Aasfresser etwas wissen wollten. Er seufzte. Längst
hätten Maria, Bartholomäus, Philippus und er auf dem Weg nach
Alexandria sein sollen.
Josef sah zu, wie die beiden jungen Männer anfingen, den Leichnam in
ein kräftiges graues Tuch zu hüllen. Seltsamerweise entströmte dem
toten Körper kein Geruch, auch schien er kaum verwest zu sein. Keiner
der Jünglinge verlor auch nur ein Wort darüber, doch Josef wusste, sie
wünschten sich nichts sehnlicher, als so schnell wie möglich wieder von
hier zu verschwinden.
Plötzlich hielt einer der beiden Jünglinge inne und beugte sich vorsichtig über Judas.
»Was ist?«, fragte Josef alarmiert.
»Hier steckt etwas«, sagte der junge Mann und zog zwei sorgsam
ineinandergerollte Schriftrollen unter dem Gewand des Toten hervor.
Josef spürte im selben Augenblick, wie eine leichte Brise über den Acker wehte. Ein warmer Regen fiel auf sein Gesicht und seinen Körper,
ebenso wie über das gesamte elende Terrain. Als er die beiden ledernen
Schriftrollen entgegennahm, konnte er ein Schaudern nicht unterdrücken.
War das etwa Judas’ Rechtfertigung für seinen Verrat?
Kleine Regentropfen hatten sich auf der Rückseite der äußeren
Schriftrolle gesammelt. Aus einem unerklärlichen Impuls heraus blickte
Josef über den Baum zum Himmel auf und erblickte einen gewaltigen
Regenbogen. Ein Zeichen?
Einen Moment lang spielte Josef mit dem Gedanken, die Schriftrollen zu
lesen, doch irgendetwas tief in seinem Innern warnte ihn davor, sagte
ihm, dass er kein Recht dazu hätte. Ihm fielen Marias Worte wieder ein:
»Sein Schicksal ist auch unser Schicksal. Wir müssen ihn suchen und
finden.« Auf einmal wusste er, wem er die Schriftrollen zu überreichen
hatte.
DAS GEHEIMNIS
1.
29. September 1978, Rom, Vatikanstadt
»Haben Sie etwas entdeckt, Doktor?«, hörte Kleier die jungenhafte und
ungeduldige Stimme seines Assistenten hinter sich. Er spürte den Staub
und den Schmutz in seinem verschwitzten Gesicht und schmeckte den
Dreck auf seiner Zunge. Dieser unbeholfene Stümper, der nur über
familiäre Beziehungen zu seinem Job gekommen war, gab ihm noch den
Rest. Vorsichtig näherte der promovierte Archäologe sich der neuen
Fundstelle, rückte seine Schutzbrille und den Helmstrahler zurecht,
kniete nieder und begann den Boden vorsichtig mit der Kelle vom Schutt
zu befreien, bis er auf Widerstand stieß. Staubkörner tanzten im
Lichtschein. Der Umriss eines quadratischen Steins zeichnete sich unter
dem Staub ab, außerdem die Andeutung eines Griffes, welche an eine
Falltür erinnerte. Falltüren waren hier unten nicht üblich.
»Sieht ganz so aus, Sebastiano.«
Mit seinen kräftigen, körperliche Arbeit gewohnten Fingern strich Kleier über den Staub und den Stein, bis er den Griff freigelegt hatte. Noch vor drei
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