Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
gleich mit ausgesprochen.
»Wie bitte?«, sagte Hermanns.
»Bitte was?«
»Sie sagten, ich hätte Geschmack.«
»Ihre Frau. Ich meinte Ihre Frau!«, murmelte Tom und sagte damit die Wahrheit, was ihm plötzlich am unverfänglichsten erschien, denn die Wahrheit, bedachte er, wird einem selten geglaubt.
Hermanns stellte ihn scharf mit seinen Augen, drehte und drehte an seinem Augenobjektiv, bis er gestochen klar auf seiner Netzhaut erscheinen musste. Tom fühlte sich sehr klein darin, wenn auch gut sichtbar. Während Hermanns ihn eingehend studierte, indem er den Kopf in die Schräge kippte, hatte Tom das Gefühl, dass er alles wusste. Er wusste alles, und das war auf jeden Fall mehr, als er selbst wusste. Hermanns sah tief ins Mikroskopobjektiv und begann zu lächeln, so als wollte er sagen: »Aber nein, das ist ja doch kein Pantoffeltier, oh nein, das ist ein Einzeller«, und er lächelte noch, als er längst schon wieder auf den eigenen Hirschlederschuh hinabsah, der auf Dauer doch interessanter war als Tom.
Der Schuh, der an Hermanns’ übergeschlagenem Bein hing, kreiste jetzt wieder. Auch Tom betrachtete das Kreisen des Schuhs, das ihn beruhigte. Die langsamen gleichmäßigen Kreise entfalteten eine hypnotische Wirkung, indem sie immer größer wurden und alle anwesenden Dinge, Tiere und Menschen in ihr rotierendes Kraftfeld zogen. Ein kreisender Rhythmus pulsierte in den Ohren, unterlegt von Dr. Hermanns’ Stimme, die vom studentischen Komitee sprach, wo sie sich kennengelernthätten, seinerzeit . Toms Wangen flackerten. In den Schläfen pochte es. Man sei sehr politisch gewesen, sagte Hermanns, vor allem Anne. Adorno sei von ihr gelesen worden und nach Frankfurt zu den Vorlesungen sei natürlich gefahren worden, und und und. Tom fixierte sein Whiskeyglas. Damit es sich nur ja nicht bewegte. Hermanns sagte: Man habe das eben mitgemacht und sich da reingesteigert, ja eigentlich rein geredet seinerzeit, sagte er, und es wirklich geglaubt, weil man jung war und sich eingebildet habe, die Weltzusammenhänge zu überblicken, es in Wirklichkeit aber nicht getan habe. Jetzt, wo man sagen könne, die Weltzusammenhänge tatsächlich zu überblicken, müsse man sagen, dass natürlich alles idiotisch gewesen sei, aber der Mensch, zumal der junge Mensch, sehne sich nach Überzeugungen, auch wenn sie falsch, nachgerade idiotisch seien, aber eine schöne Zeit sei es doch gewesen, »eine tolle Zeit«, sagte Hermanns, »war das schon, und Anne, das dürfen Sie mir glauben, sie war eine Sensation, sie hätte alle haben können, das dürfen Sie mir glauben. Nun ja«, sagte er und lächelte wehmütig.
Tom beobachtete einäugig, wie aus seinem leeren Whiskeyglas ein weiteres Glas hervorging, wie ein junges Glas sich von dem alten abspaltete, so dass fortan zwei Gläser da waren.
Jetzt dagegen, sagte Hermanns, sei alles eine Belastung, das Haus sei eine Belastung, der Garten sei eine Belastung, die Hunde seien eine Belastung, ja auch er selbst sei eine Belastung, sei vermutlich die größte Belastung von allen. Aber er lachte darüber wie über einen gelungenen Witz. Tom überlegte, in welches der beiden Whiskeygläser er sich nachschenken sollte. Hermanns sagte: »Spaß beiseite.« Er sagte: »Weltzusammenhänge.« Tom fixierte die Whiskeygläser. Hermanns sagte: »Ohnmachtder Politik.« Er sagte: »Lächerlich.« Und verschwand. Ein Schleier fiel von der Decke und verhüllte ihn. Ein heller Duft hüllte alles ein, verdunkelte den Raum.
»Thomas? Ist Ihnen nicht gut?« Eine Hand an seiner Wange, auf seiner Stirn, kühl, glatt, unendlich liebevoll. Er hielt ihr Handgelenk fest, flüsterte: »Anne!« Ihr helles Auge.
»Thomas, Sie haben ja Fieber!« Und ihr Atem streichelte über seine Wange, ihr Duft lag auf seinen Augen, die Weichheit ihres Mohairpullovers.
LEBENSUNTERHALTUNG
»Du bleibst erst mal im Bett«, sagte Marc mit krankenschwesterlicher Strenge, nachdem die Säule des Fieberthermometers, das er nach längerem Suchen im hintersten Dunkel des Arzneischränkchens gefunden hatte, in Toms Mund auf 39,7 Grad Celsius gestiegen war.
Marc kochte Tee. Er saß auf der Bettkante, hörte mit krankenschwesterlicher Geduld die von Alkohol und Fieber verwirrten, sich im Kreis drehenden und umständlichen Erzählungen seines Patienten. Der sagte: Im Wagen, nicht dem großen, sondern dem kleinen Mercedes der Hermanns’, sei er von Dr. Hermanns zum Prenzlauer Berg gefahren worden, weil Anne (er sagte Anne und betonte und
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