Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Sonntagnachmittagen, die nicht vergingen, sondern dastanden in der Form von Blöcken, in die man selber eingegossen war – denken sollte, sein Leben und das einiger anderer Personen wohl erheblich anders verlaufen wäre:
»Suchen Hundeausführer/In für drei liebe Irish Setter in Dahlem, mindestens dreimal pro Woche. Sehr gute Bezahlung!« Der letzte Halbsatz war mit orangefarbenem Marker doppelt unterstrichen, die Telefonnummer, zweifellos diejenige der Hermanns’, stand fünfmal senkrecht zum restlichen Text am unteren Ende des Zettels und war zum Abreißen bestimmt. Tom konnte sich nicht erinnern, was es damit auf sich hatte, träumte aber bereits, während das Fieber schwand, von einer neuen beruflichen Karriere.
DAS MEER DER MÖGLICHKEITEN
Von einem Augenblick zum andern verliebte sich Marc doch in Marietta, die blasse Geigerin. Als der Himmel sich erhob und darunter die noch kahlen Baumwipfel in einem dünnen, zartenLicht standen, als auch die Geräusche, das Vogelgezwitscher, Fahrradgeklingel, Gefahre der Autos, Straßenbahnen und U-Bahnen, heller und filigraner ineinander verdrahtet waren und die Trödler längst wieder ihre karierten Sofas, orangefarbenen Stehlampen, Plastiktischchen, Küchenuhren, gepolsterten Stühle und Spiegelkommoden, großformatigen Gemälde mit röhrenden Hirschen, Engeln oder Heilanden mit sehr roten Wundmalen an den Handflächen in sehr goldenen Rahmen, außerdem Waschschüsseln mit vereinzelten halbhohen Stiefelettenpaaren darin auf die breiten Bürgersteige gestellt hatten, als die Frauenkörper unter dünnerer Kleidung wieder zu erahnen waren und interessierte Blicke von Mensch zu Mensch erneut durch die Straßen segelten und das milde Seidentuch der Luft, kam Marc nicht länger um Marietta herum, wie er sagte.
Auch häuften sich die Probentermine. Die Aufführung im Rahmen der »Tage zeitgenössischer Musik« war für Anfang Juni angesetzt, und Tom konnte vom Flügel aus beobachten, wie Marc seine Konzertmeisterin bewunderte, wie er ihren geneigten Kopf anmutig fand, die Arme, die wegen des Frühlings nackt und blass waren, außerdem zierlich und schlangenhaft, wenn sie Geige und Bogen hielten, wie er all das anziehend und jedenfalls überdurchschnittlich fand. Und eines Morgens saßen sie zu dritt am Frühstückstisch, und es war sogar Kaffee in der Dose. Trotzdem achtete Marc darauf, die Beziehung als lose Freundschaft zu deklarieren, schon wegen des Arbeitsverhältnisses, damit der empfindliche Mikrokosmos des novus ensemble nicht aus dem Gleichgewicht gerate. Sagte er.
Tom aber übte viel auf Marcs Flügel, und je tiefer er in die Windungen und Vernetzungen des Stücks vordrang, desto mehrfühlte er sich darin zu Hause. Sein Ziel war es, auswendig zu spielen, weil ihn Noten auf der Bühne nervös machten. Immer hatte er am liebsten auswendig gespielt, schon als Kind, wenn er, bewundert von gescheitelten, bebrillten, perlenkettenbehängten und parfumumwölkten Eltern (nicht aber den eigenen), in Schulaufführungen Mozart- oder Beethovensonaten zum Besten gegeben hatte, auswendig, und zwar nur weil er es nicht fertiggebracht hatte, Noten zu lesen, wenn es darauf ankam, und er sich daher bereits früh darauf spezialisiert hatte, Stücke zu memorieren, bis er durch ein paar Herbie-Hancock- und Keith-Jarrett-Platten seiner (angeheirateten) Tante Linda den Jazz kennengelernt und erkannt hatte, dass man ruhig falsch spielen konnte, mit oder ohne Noten, wenn man es nur gut genug tarnte.
»Du spielst es wirklich auswendig?«, fragte ihn Marc eines Abends, als Tom im düsteren Wohnzimmer am Flügel saß und sich mit geschlossenen Augen durch den zweiten Satz des Konzerts tastete.
»Du weißt doch, dass ich keine Noten mag«, sagte Tom, ohne aufzuschauen.
Marc hatte sich auf eines der Sesselchen gesetzt und hörte zu. Das Tageslicht war ausgegangen, und von der Straße drangen nur ein paar Laternenstrahlen ins Zimmer, klebten sich an Decke und Wänden fest. Als die Musik in Stille übergegangen war, hörte Tom ein tiefes Atmen Marcs. Sie saßen schweigend. Niemand machte Licht. Nur die Tasten des Klaviers leuchteten unwirklich.
»Was ist?«, fragte Tom ins Dunkle. Marc schwieg.
»Marc?«
»Ja.« Aber dieses Wort war leise, nicht auf große Entfernungenausgelegt, wie sie in diesem Wohnzimmer herrschten. »Wenn du es spielst«, fuhr er leise fort, »mag ich es sogar.«
»Du sagst das, als hättest du was anderes erwartet«, sagte Tom, der die plötzliche Düsternis mit
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