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Die Orgelpfeifen von Flandern

Die Orgelpfeifen von Flandern

Titel: Die Orgelpfeifen von Flandern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alban Nikolai Herbst
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schließlich, die den Passagier wieder ans Tageslicht, nämlich zum Eingang des Friedhofes hoben, waren von blassen, annähernd einen Zentimeter starken Holzleisten beschlagen und an der Sohle verschraubt. Gehsteige und Fahrbahnen gleißten vor Nässe. Auf der Asphaltierung standen weite, durch Kanälchen verbundene Lachen. Die wenigen Fußgänger trugen Regenschirme. Pneus rauschten durch Pfützen. Ansgar schritt durch ein Törchen links, zwischen Steinmauer und einem hohen, baufälligen Wohnhaus. Der Weg leitete bröcklige Steinstufen empor und bog scharf rechts ab. Spitzakazien und Eschen säumten ihn nun. Er war ornamental von ungleichen, sehr glatt abgetretenen, blaßfarbig überzogenen Quadersteinen gepflastert und je seitlich mit knöchelhohem Klinker eingefaßt. Von den Zweigen klätschelten Wassertropfen auf abgewehtes, zusammengefegtes Laub. Gleichwohl schallten Ansgars Schritte metallisch nach. Glaswände schienen um das Terrain, eine unsichtbare Bedeckung schien darübergezogen zu sein, was zwar Geräusche in die Nekropole hereinließ, nicht aber hinaus. Betont schlenderte Ansgar, durchschweifte die Grabmalsstraßen, passierte Grüfte, Gräber, Weiden, Erlen und Koniferen, stieg den Hang hinauf, blieb mitunter stehen vor bisweilen warnenden, bisweilen versonnenen Engeln oder demutsvollen Müttern Gottes oder weil ihn ein Steinbau erbarmte. In grauen, wie Reisekoffer rollbaren Plastikkübeln verwelkten Blumengebinde und Kränze. Die nach strengen Divisionen näherungsweise rechteckig angelegten Viertel, eine frömmelnde Totenkaserne, hielten herzrührend still und waren ohne jeden Schrecken. Gelegentlich erheiterte halbsakraler Schwulst. Den dem Vaterland Gefallenen, 1878, 1914. Schriftsteller, Komponisten, Wissenschaftler, Architekten. Mehrmals italienische, belgische Gräber. Familienstätten, Buntglas im Totenhaus, Katholikenkitsch, blasse Porzellanblumen, verrostete Einfriedungen, angelehnte, spaltsinnende Holztüren oder solche aus Schmiede-, aus Gußeisen, ziselierten Zierat daran. Alles zusammen jedoch, selbst die gröbste, peinlichste Überhebung, ergab den außergewöhnlich milden Eindruck melancholischer Verwitterung, und eben die Häufung von Geschmacklosigkeiten war es, was eine jede schliff und verklärte. Nur deshalb holten die Bäume so weithin Luft.
    Die wasserdunstenden Kolumbariumtrakte umragten einen quadratischen, kiesbedeckten Platz. Über breite Freitreppen ging es ins Souterrain des Krematoriums und weiter in die zweistöckige Urnenanlage, worin, wie von Kerzen, ein gedimmtes, zittriges Licht hing. In den Wänden Nischen neben und über Nischen, je davor in kleinen ovalen weißlichen Blumenvasen bunte Sträußchen. Kahlstes, art deco -durchsetztes Bauhaus, schräge Wandlampen, eckige Säulen, das Klacken schwerer Schritte und Klickern schnellerer, die von Frauenabsätzen rührten. Man konnte durch den rechteckig glattdurchbrochenen Fußboden über ein Geländer ins Tiefgeschoß blicken, dessen Gangwände kleine bronzene Gedenktafeln trugen, tausende, zehntausende, ein Meer von Namen. Es roch nach Kleintierhandlung. Vor ein paar leergebliebenen Nischen stand Ansgar für Sekunden still und sann wie ihrer Bedeutung nach, aber er bekam den Gedanken an verschissenen Vogelsand nicht aus dem Kopf.
    So kehrte er um, schritt hastig in den Regen zurück, fröstelte im Freien. Er fand nichts, fand einfach nichts, fühlte sich eingebunden gleichwohl. War es nicht lediglich seine ruhige Bewegtheit, was ihn dahintrieb und ihm die angenehm morbide Illusion erlaubte, er selbst sei nichts als ein sich wiegender Ast, eine gemächlich in ihren Angeln schwingende Pforte? Nur störten ein paar Touristen, die mit Friedhofsplänen umherliefen, das Papier dem Regen zeigefingernd entfalteten, vermutlich nach bestimmten Gräbern suchten, nach dem womöglich de Nervals oder Balzacs, denen Wildes oder Prousts, gar dem von Murat -, denen irgendwelcher Prominenzen, deren Prominenz sich hier auf alle Ewigkeit verloren, sich so sehr eingeglättet, weggewaschen hatte, daß man nach ihr fahnden mußte. Jemand fragte Ansgar nach einem Weg - derart schien er mit der Anlage verwachsen zu sein! -, zu sehr mithin, um zu erkennen, was er eigentlich suchte. Er trug es unter der Haut und konnte also nicht zurücktreten, nicht auf Distanz gehen, um es anzuschauen. In einem Spiegel sah man es nicht. Es war zu sehr da, als daß er nicht erkenntnislos darüber hätte hinwegschweifen müssen.
    Es war nun nicht das Grabmal der

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