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Die Orgelpfeifen von Flandern

Die Orgelpfeifen von Flandern

Titel: Die Orgelpfeifen von Flandern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alban Nikolai Herbst
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Taschen auf.
    Vier Menschen lösten dieses innere Sichzusammenziehen aus, als versetzte man Ansgar in Zeiten zurück, an die man eine üble Erinnerung hat; doch kennt man sie eigentlich nicht. Es geschah dies zu schnell, um darauf präventiv reagieren zu können. Etwas Fremdes drang auf Ansgar ein, das ihn nicht nur in Frage stellte, sondern wegstieß. Er senkte, beschämt, den Blick. Doch um so nachdrücklicher, nämlich im Augenwinkel, registrierte er. Der Vater trug, wie sein noch glattgesichtiger Sohn, den dunklen Hut mit kleiner Krempe; Mutter und Tochter, beiden in geringem Abstand folgend, hielten das Haar mit Tüchern aus dem Gesicht. Sabbath.
    Ansgar quälte nicht eingestandene Schuld. Sie war naiv, nicht begründet, aber widerstrebend strengte ein subkutanes Etwas sich an, sie zerebral herzuleiten. Unmöglich, den Vieren offen in die Gesichter zu sehen. Gleichwohl hatte Ansgar gemeinhin mit Fremden kein Problem. Man roch bisweilen unvertraut, sah womöglich anders aus. Das war auch schon alles. Bei gläubigen Juden hingegen schwang ständig etwas quälend Auserwähltes mit. Und doch: Attackierte ihn eigentlich dies? Machte ihn nicht etwas ganz anderes, etwas sehr Persönliches derart beklommen?
    Er fand, nach einem Rundgang, Quartier in einem Hotel namens ›Terminus‹. Das hielt er sofort für ein Zeichen, so daß er gegen den Pförtner oder Eigentümer beharrlich bleiben konnte, der ihn anfangs nicht minder deutlich hatte abweisen wollen als dessen Deutscher Schäferhund. Wäre das zähnebleckende Monstrum nicht durch ein zwischen Empfangsräumchen und Flur angebrachtes, hüfthohes Brett daran gehindert worden, kein Zweifel, es hätte sich umstandslos auf den Fremden gestürzt. Und vermutlich nur, weil der bereits einen Geldschein in der Hand hielt, wurde er so gierig wie widerwillig akzeptiert. Zwar noch schüttelte der kleine Mann mit dem schütteren Oberlippenbart verkniffen den Kopf; aber kaum daß er die Note sah, griff er schon danach.

    E s regnete Bindfäden. Ansgar nahm in einem hellen Lokal Zuflucht, den kubischen Bauten gegenüber, vor denen er bereits in der Frühe gestanden hatte und deren wohlgepflegte Häßlichkeit ihn anzog, als hätte er etwas zu schaffen mit ihr, als gäbe es da eine wenn auch nur ungefähre Verbindung. Zur Flandernstraße duckte sich zwischen zwei bizarr geformten, weiß verschieferten siebzehnstöckigen Häusern - Ansgar hatte die Fensterreihen gezählt -, zudem mit ihnen über je einen modernistisch verkachelten Sims verbunden, ein kleines rundes Steintor, das die Inschrift ›Flamenviertel‹ trug. Ansgar war, frühen morgens noch, hindurchgeschritten, hatte die Schuhe unachtsam auf ein lädiertes Mosaik gesetzt, welches den Quartiersaufriß zeigte, und in der Hof- und Rasenanlage für einige Momente auf einer der Bänke Platz genommen. Abermals schien das Singen anzuheben, ungeachtet der Kinder, die plötzlich, bunte Schulranzen aufgeschnallt, aus den Milchglastüren stürmten: kleine Schwarze, Araber, Europäer, einträchtig, manchmal sogar Hand in Hand, auch Asiatenkinder, sich balgend, Stimmchen, schuld- und arglos, kleine Hunde. Das gefiel ihm, und er konnte sich, obwohl alles so naß war, nicht von seinem Sitz lösen. Die architektonische Scheußlichkeit beeinträchtigte seine leise Hochstimmung kaum.
    Aber er brauchte eine Unterkunft. Nachdem er den Flamenbogen wieder durchschritten und sich nach links gewandt hatte, streckte ihm ein Versehrter Bettler, der neben einer Pfütze vor einem chinesisch-vietnamesischen Restaurant saß und ihn aus verschwieltem Gesicht keineswegs bittend, sondern mit derselben Unerbittlichkeit ansah, die Ansgar vorhin in den Bewegungen der Chassidim gefunden hatte, eine von durchbrochenen Lappen umwickelte Hand entgegen. Vor seinem Leibstumpf stand, wenige Münzen darin, eine Zigarrenschachtel. Beiseite ein kleiner Hund angebunden, Pudelmischling wohl, besabberte den Boden. Auf ein Pappschild war ungelenk »Bruder Jakob hat Hunger« gekritzelt. Ansgar ignorierte die beiden, war aber kaum an ihnen vorbei, als der Bettler ihm etwas nachrief. Zwar verstand Ansgar das Idiom nicht, doch schien ihm, es sei eine Verfluchung gewesen, ein deutscher Imperativ Er hörte es deutlich: »Stürze!« Sofort drehte er sich um, aber der Mensch starrte bewegungslos, mit seiner Leere beschäftigt, auf die grobe Wolldecke, die über seinem Unterleib lag.
    Zwei Stunden später saß Ansgar an einem quadratischen Tischchen vorm Fenster des Lokals und

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