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Die Orgelpfeifen von Flandern

Die Orgelpfeifen von Flandern

Titel: Die Orgelpfeifen von Flandern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alban Nikolai Herbst
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den Achseln, schlug den Kragen hoch, spazierte diagonal über die Straße, wich gelenkig ein paar Autos aus, trat drüben ins Café. Ansgar, in der Tür, sah ihm abwesend nach, schüttelte endlich die Trance ab. Es regnete nicht; nein, man wärmte sich, obwohl der Verkehr lärmte, auf Bänken wie an österlichem Frieden in der Vormittagssonne. Ein alter Herr las die Zeitung. Passanten strebten eiligen Schritts, Papiertüten unter den Armen, nach Hause oder zur Arbeit. An der Ecke zum ›Tertre d’Or‹ kauerte, neben ihm döste sein Hund, der Bettler; für einen Moment trafen sich seine und Ansgars Blicke. Es sah so aus, als nickte er ernst, schaute schon wieder friedlich zurück in den Schoß.
    Sich erinnernd, legte Ansgar den Kopf in den Nacken. Jemand hatte geblümte Bettwäsche aus einem der Fenster gehängt, im achten, vielleicht im neunten Stock. Der Stoff zipfelte in einer Brise.
    Es war geschehen am 9. April. Ich war wieder nach Paris gefahren, hatte es nicht mehr ausgehalten ohne Jézabel, hatte mich zurückgesehnt, wollte zu ihr. Verzweifelt suchte ich sie. Die Wohnung in der Rue Beilot war aufgelassen mittlerweile. Ich versuchte es im ›Conways‹. Niemand wußte um Jézabels Verbleib. Einen Freundeskreis pflegte sie ja nicht. Auch Paul wußte nichts. Seit ich sie verlassen hatte, hatte er sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ich war so verzweifelt, daß er mich bei einem zweiten Suchen nach La Villette begleitete. Und dann standen wir dort neben dem Karussell, hörten von oben einen Schrei, hier unten kreischten die Menschen entsetzt. Es gab ein häßliches, scharfes Rauschen, als Jézabel stürzte. In mir fing, ich weiß nicht warum, alles zu lachen an. Mein ganzer Körper zitterte. Ich entsinne mich nicht mehr, wie ich nach Frankfurt zurückkam. »Du bist ein Schwein«, schrieb Paul auf die Zeitungsseite, die er mir schickte. Er hatte den Sensationsbericht mit einem Kuli eingekringelt. Ich wußte nichts damit anzufangen. Schnitt den Artikel allerdings aus, trug ihn fortan ständig bei mir, las ihn erneut und erneut, aber begriff nicht den Sinn.

    N och immer stand Ansgar in der Tür, ordnete seine Erinnerungen, grübelte, sann, zunehmend ängstlich. Plötzlich riß er sich los, blickte zurück, blickte vor, blickte hoch, sah in den Hausflur. Wenn denn das alles so sich zugetragen hatte, wer um Gottes willen war die Frau, mit der er die Nacht verbrachte und die ihn erwartete dort oben? Du mußt mich ins Leben lieben, Abèl ... Das konnte nicht sein! Jézabel war tot, zerschmettert; mit den eigenen Augen hatte er das gesehen. Und rannte los, nahm nicht den Aufzug, nein, stürmte das Treppenhaus hinauf, all die zwölf Stockwerke, die sie außen hinabgestürzt war, raste, holperte, stieß sich die Knie, zog sich am Geländer weiter, hielt sich, endlich oben angekommen, die Seiten, außer Atem, vor Milzschmerz, riß die metallene Brandschutztür auf, rutschte aus, fiel hin, sprang hoch, stand jäh vor der Wohnung.
    Niemals zuvor hatte ihn eine solche Angst gefaßt wie nun, als er langsam den Knauf berührte. Sie drückte sich ihm auf die Zunge, durchs Zäpfchen, die Kehle hinab. Die Tür nur angelehnt. Kein Namensschild draußen. Bange stieß er sie auf.
    Eine Leiter lehnte zusammengesteckt im Flur. Farbtöpfe darum her. Es roch nach Innenbinder, nach Leimen, Metanol. Er trat ins Wohnzimmer. Drei der Wände bereits geweißt; eine verfleckt, schmutzig grau. Die Bodenleisten teils herausgerissen. Ausgefranste Stücke Linoleums lagen auf einem Haufen rechts in der Ecke. Daneben eine alte Matratze, aus der der Federkern lugte. Darauf verstreut Nippesgegenstände, ein paar Plastikbecher, eine umgefallene Thermoskanne. Außerdem Ansgars Umhängetasche, naß aufgequollen, als hätte sie lange im Regen gelegen. Daneben der Artikel aus dem ›Françe Soir‹ vom 10. April. Und eine rote Lederstiefelette. Ansgar nahm sie auf, und hätte ihn nicht ein leises, sirrendes Singen beruhigt, das, aus den Wänden, aus dem Boden steigend, wie dichte Luft im Zimmer hing, er hätte vor Verzweiflung geschrien. So aber ließ er sich nieder auf der Matratze, hielt die Stiefelette im Schoß, streichelte sie und summte, endlich trauernd, das Kinderlied.

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