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Die Orgelpfeifen von Flandern

Die Orgelpfeifen von Flandern

Titel: Die Orgelpfeifen von Flandern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alban Nikolai Herbst
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Venen, über die sich Mauern und Wände versorgten.
    Ansgar schaute, seit er sie erworben hatte, gewiß zum zwanzigsten Mal auf die Uhr. Es war schon wieder derart spät! Wenn er Claudette heute noch anrufen wollte, mußte es sofort geschehen. Womöglich habe er, dachte er, das Telefonat absichtlich vor sich hergeschoben. War es nicht ohnedies Zug seines Charakters, Entscheidungen hinauszuzögern, bis er sie einfach vergaß? - Er lachte leise. Ging mir doch erneut auf den eigenen Leim.
    Er fingerte aus der Hemdbrust den Zettel, blickte sich nach einem öffentlichen Fernsprecher um, aber als er eine Telefonzelle betrat, ließ sich der Apparat nicht durch Münzen, sondern nur mit Magnetkarten in Betrieb nehmen. Daß er daran nicht gedacht hatte! Hätte er dran denken müssen? Ein feiner Schauer lief nackenabwärts zu den hinteren Beckenknochen. Keine sechs Monate war es her. Frühling, Anfang April. Ich entsinne mich. Paul hatte ich anrufen wollen, weil ich ... wen nicht angetroffen hatte? Warte. Warte! Rue Bellot, neben dem arabischen Restaurant... Dort hat gewohnt ... Ach, er wußte es doch nicht! Entsann sich lediglich, gestanden zu haben vor einer Tür, deren Lackierung in grauweißen, aufgeblasten Fladen abblätterte. Hatte etwas gesucht. Hatte einen Namen gesucht. Aber fand ihn nicht auf den schmutzigen Papierschildchen über den Klingelknöpfen. Das Haus wies ihn ab. Nicht, daß es kalt gewesen wäre, im Gegenteil, es regnete auch nicht. Er stand herum, um auf er wußte nicht wen zu warten. Danach wollte er Paul anrufen. Er hatte noch keine Unterkunft. In der Telefonzelle neben der Busstation eingangs Rue de Flandre versuchte er, ihn zu erreichen. Paul, den er schließlich auf gut Glück angetroffen hatte, erzählte später, die neuartigen Geräte habe man der Automatenknacker wegen installiert. Wie konnte mir das entfallen?
    Also ins nächstbeste Café. - Er fragte. Der Kellner nickte flüchtig in Richtung Toiletten, seine stiefelettenrote Livree war geputzt. Die hügeligen Goldknöpfe blitzten. Man mußte eine Wendeltreppe hinab; in Brusthöhe war der Münzfernsprecher neben der Herrentoilette angebracht. Ansgar legte den Zettel auf den Apparat, warf einen Franc ein, wollte wählen, schon rotierte die Scheibe, als ihn jemand, der sich von hinten genähert hatte, am Ärmel zupfte.
    »He«, sagte eine junge, dunkelhaarige Frau, und zwar auf deutsch, doch mit dem ihr eigenen Akzent, »willst du mir untreu werden?«
    Er erkannte sie sofort. Die ihn anschauten, waren die vollen und die schwarzen und die wilden Augen Jézabels.

    H ätte er verblüfft sein, nicht gar erschrecken müssen? Er war und tat es nicht.
    »Was machst du hier?« fragte er.
    »Du hast mich gerufen, also bin ich gekommen.«
    »Seit Monaten habe ich nichts mehr von dir gehört.«
    »Wie solltest du?«
    »Auf fast den Tag genau ist es ein Jahr her, daß ich dich zuletzt gesehen habe.«
    Sie zwinkerte ihm zu, halb spöttisch, ein bißchen leichtfertig. Doch spürte er sofort den alten Ernst.
    »Ich hab’ dich gesucht«, sagte er, »Anfang April. Aber du warst umgezogen.«
    »Zu Pessach, ja.«
    »Warum hast du mich nicht angerufen?«
    »Wie hätte ich können?«
    Er antwortete nicht.
    »Laß uns einen Pastis trinken«, sagte sie.
    »Wie früher?« Er lächelte.
    »Wie immer«, sagte sie, nahm seine Hand, zog ihn hinter sich her, die schmalen Wendeln hinauf, in die nach französischen Tabaken, Snacks und Kaffee duftende Luft, der sie die Note ihres Laubparfums beigab. Es entströmte der jungen, heftigen Frau etwas Kühles, wie einer, die, noch Reif im Haar, aus einem Wintertag ein beheiztes Zimmer betritt.
    »Sag, wen wolltest du anrufen?«
    Sie hatten sich an einen der kleinen runden Tische auf Ratangestühl gesetzt.
    »Magst eine Suppe?«
    »Du weichst mir aus.«
    »Ich?«
    »Du sagst mir nicht, wen du anrufen wolltest.«
    Er reichte ihr den Zettel hinüber; sie las Nummer und Namen mit zusammengezogenen Brauen, riß ein Streichholz an, steckte das Papier im Aschenbecher achtsam in Brand, die Zungenspitze im rechten Mundwinkel. »Das war’ erledigt.« Etwas Heftiges leuchtete aus ihren Augen, etwas Unerbittliches, Dunkles, voll einer Hitze, die nur die schwarzen Kajaistreifen davor zurückhielten, aus dem braunhäutigen, schönen Gesicht herauszuspringen.
    »Beruhig’ dich«, sagte Ansgar. »Eine Zufallsbekanntschaft, heute nachmittag erst. Jetzt bin ich bei dir.«
    Sie langte herüber, legte ihm eine ihrer flachen Hände auf den Unterarm,

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