Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Orgelpfeifen von Flandern

Die Orgelpfeifen von Flandern

Titel: Die Orgelpfeifen von Flandern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alban Nikolai Herbst
Vom Netzwerk:
ihr etwas Geld, damit sie schwieg.
    So konnte es angefangen haben.

    W ie er wieder dorthingelangt war, wußte er nicht, aber war hellwach, als jemand kam, von innen die Tür aufzuziehen. Ansgar erwischte die Klinke, bevor das Schloß zurückgeschnappt war. Der Anwohner, ein etwa Vierzigjähriger im Trenchcoat, schaute dem jungen Menschen eher überrascht als mißtrauisch ins Gesicht. Ohne sich über seine Gelassenheit zu wundem, fragte Ansgar: »Entschuldigen Sie. In welchem Stockwerk wohnt denn Fräulein Blum?« Der Name fiel ihm so bei wie die Sprache. Es war kein angenehmer Klang, sondern indem er sprach, durchzog ihn ein Schaudern. Vielleicht hatte ihn der andere nicht verstanden; jedenfalls zuckte er mit den Achseln, schlug den Kragen hoch, spazierte diagonal über die Straße, wich gelenkig ein paar Autos aus, betrat drüben das Café. Ansgar, in der Tür, sah ihm abwesend nach, schüttelte endlich die Trance ab. Der Flur war glatt und braungekachelt. Höchstens zwanzig Quadratmeter Fläche. Strahler an der Decke. Ein paar Aushänge hinter Glas. Und nun? Er holte sich den Lift, fuhr bis irgendwo hinauf. Stand in einem der Etagengänge vor einer endlosen Reihe von Türen. Klingelte wahllos.
    »Entschuldigung, ich suche Fräulein Blum.«
    »Da müssen Sie schon woanders klingeln.«
    Hinter jeder Klinke Lebenstrümmer.
    »Bitte? Nein, so eine kenn’ ich nicht.«
    Ein zusammengeballter, tagtäglicher Kampf. Randalierende Väter, betrunkene Mütter, wie eingesperrt schreiende Gören. Kaffeegerüche, Scheuereimer, verstopfte Badewannen. Ansgar trieb seine dumpfen Vorstellungen, ja hieb sie durch den Flur. Er lauschte und hörte nichts, stand nur da und atmete an Kacheln. Schloß die Augen. Öffnete sie. Saß im Café.
    Kleingefalzte, zusammengedrückte Geldnoten hatte Louise in ihren Babyschuhen versteckt. Die nahm sie, als sie ausriß, mit; sonst aber nichts. Bei einer Freundin aus dem ›Conways‹ schlüpfte sie einstweilen unter. Lernte deren Liebhaber kennen, einen aknevernarbten Koloß, dessen hemmungsloses Lachen sie wundervoll umbrauste. Ihn amüsierte die hellblonde Jüdin. Als der Reiz daran schal wird, stellt er sie an die Rue St. Denis. Sie fügt sich, hat nichts zu verlieren. Das bißchen Gestoße schändet sie nicht. Sind dann die Freier gegangen, nimmt sie, obzwar müde, Bücher vor - ein geradezu wütender Luxus, dem sie verfällt. Sie berauscht sich, besäuft sich an Bildung, liest fast den ganzen Tag. Dann geht sie auf die Straße. Frißt sich in Kant und Rousseau, schlürft Byron, durchjagt Céline und Baudelaire, entdeckt das Matriachat: Sir Galahad, Christa Reinig, die Edda. Die Thora rührt sie nicht an. Die ist für Männer gemacht.
    Sie wird selbständig, zahlt den Zuhälter aus, vergräbt sich einige Wochen. Erst als sie neue Bücher braucht, nimmt sie die Arbeit wieder auf. Die Bände stapeln sich im Flur, in der Küche, auf dem Fensterbrett. Als sie sich an der Universität unter falschem Namen einschreiben will, fliegt sie auf, vergräbt sich abermals. Längst wird sie gesucht. Sie meidet jeden persönlichen Kontakt, wird geradezu physiologisch abstrakt. Kaum noch nimmt sie Nahrung zu sich. Sie will den Körper klären. Verliert darüber die Kunden, denen sie ohnedies unheimlich ist. Dann wird ihr bewußt - unmittelbar und wie ein Gedanke, der längst vorbereitet war, ohne daß sie, die ihn trug, darum wußte -, dann also wird ihr bewußt, daß sie den Gott ihrer Väter nicht fliehen kann. Und mit einem nüchternen Blick geht sie zum Fenster, öffnet die Scheiben, lehnt sich hinaus, weit, immer weiter, läßt los.

    A nsgar schlief unruhig in dieser Nacht, warf sich, weil es ihm entweder, hielt er das Fenster geschlossen, zu warm war oder, öffnete er’s, zu kalt, von einer Lakenseite auf die andere, träumte aber nicht oder glaubte, nicht zu träumen. Der Wind hatte so an Gewalt zugenommen, daß er zwischen den angelehnten Fenstern jaulte, die bisweilen gegen den Rahmen knallten. Jemand schien vor dem Bett zu stehen und den Schlafenden zu betrachten -, aus einer Fremde heraus und sozusagen distanziert. »Advise!« Sein eigener Ruf. Der zerquälte Laut schrak ihn geradezu senkrecht auf. Er stützte sich rückwärts auf die Ellenbogen, blinzelte ins kontrastlose Verdämmern. Natürlich war er allein. Er lauschte mit geschlossenen Augen. Der Wind warf sich heulend vom Bassin über die angrenzenden Dächer, schlug zwischen Dachziegel und Schlote, prallte zurück, umwirbelte die Fugen,

Weitere Kostenlose Bücher