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Die Orgelpfeifen von Flandern

Die Orgelpfeifen von Flandern

Titel: Die Orgelpfeifen von Flandern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alban Nikolai Herbst
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durchweicht. Spaßhaft wrang er einen der Mantelärmel aus. Beide lachten sie hell. Er löste sich und wurde nach zwei Mirabellengeisten sogar amüsant. Sie unterhielten sich über postmoderne Architektur, die alte, bereits versunkene Metropole und Aragons ›Paysan de Paris‹. Nach einer Viertelstunde reichte sie ihm unvermittelt ein Händchen und stellte sich vor mit dem Namen Claudette. Er bot ihr seine letzte Zigarette an, dann rauchte er ihr die Schachtel leer. Sie wollte sich aber, als sie nach einer Stunde davonstöckelte in ihren kompakten Wildlederpumps, partout nicht von ihm begleiten lassen. Immerhin ließ sie ihm, »auf später einmal«, ihre Telefonnummer da. Als Ansgar nach einem Ricard seinerseits loszog, war es für ihn beschlossene Sache, daß er sie noch heute Abend anwählen werde. Dabei wußte er im Innersten längst, daß es für dergleichen zu spät war. Aber er gestand es sich nicht ein, genoß das plötzliche, ungebundene Hochgefühl.

    D ann begann ihn zu beunruhigen, daß er seine Tasche auf Père-Lachaise zurückgelassen hatte. Er erwog, sie sich wiederzuholen, verwarf den Impuls jedoch, schon weil er sich nicht sicher war, ob er das Beinhäuschen noch einmal fände. Zudem schloß man ja mit Einbruch der Dunkelheit; so war auf einer Blechtafel am Hauptportal zu lesen gewesen. Es wäre gewiß kein Vergnügen, sich in Dunkel und Nässe zwischen Dolmen, Ossarien und Grüften zu verirren. Es mußte ohnedies bereits nach sieben sein. Er betrat ein weiteres Café, erstand bei der Kasse nahe der Tür, wo sich Tabakpäckchen stapelten, Zigaretten und eine billige Quarzuhr. Jetzt wüßte er immer, wie spät es war. Daraufhin nahm er die Métro bis Châtelet, suchte sich in der Gegend eine noch geöffnete Wechselstube und kehrte irgendwo ein, um zu Abend zu speisen. Er hatte ausgerechnet Kutteln bestellt, aß aber mit einem Appetit, wie gewiß seit einem Jahr nicht mehr. Während er couragiert an ihnen kaute, defilierte vor seinem inneren Auge die Stadt. Zumindest stimmte die rote, leicht säuerliche Sauce auf den herben Beaujolais.
    Wohnten nicht Freunde in Paris? Aber gewiß doch! Wie hatte er das vergessen können? Zwei Gastsemester sind immerhin Zeit. Warum rief er sie nun, da er sich langsam, gleichsam müde ihrer erinnerte, nicht an? -Ach nein, sie würden etwas wissen wollen, worauf er keine Antwort hätte. Oder hatten sie die Antwort? Der Gedanke war Ansgar nicht angenehm. Aber sie wären gewiß verletzt, erführen sie, er sei zurückgekommen, ohne wenigstens vorbeizuschauen.
    Nein, er mochte mit niemandem sprechen, mit keinem von damals. Er habe, meinte er, die Angelegenheit mit sich alleine auszumachen. Das vergangene Jahr kam ihm nun vor nicht wie ein langer, traumloser Schlaf, sondern wie Koma. Natürlich könne er immer noch telefonieren. Die jungen Leute, die draußen flanierten, gaben sich schick und hatten einen Gang, als spielten sie Federball.
    Ansgar zahlte und ging.

    S eit morgens verfolgte ihn, fast eine Zwangsidee, der Eindruck, nirgendwo gebe es derart viele Hunde wie in Paris. Noch jetzt fielen sie ihm auf, noch im Dunklen, als Frauen und Männer, gegen den Regen gebückt und unnatürlich flink, wie Beute Baguettes nach Hause trugen, einen wenngleich diskreten Erobererstolz im Antlitz. Vor allem jedoch morgens, heute und gestern, auf der Rue de Flandre, waren die Hundehalter an ihm vorbeispaziert: Frauen hielten Pinscher in gestrickten Muffs an entrollbaren Leinen; Männer, die Hände im Rücken verschränkt, eine gelbe Maisblattkippe im Mundwinkel, den Riemen fest um die Faust, federnd, im Schulterblatt geduckt, Windspiel und Dogge. Eine Schuhsohle wischte Köterurin gegen den Bordstein. Immer wieder zog es Hunde an die flächige Spur. Und auch hier - Ansgar war erneut über die Île de la Cité spaziert, zur Südstadt, in Richtung auf die eleganten Quartiere, tauchte in Lichterflut und Menschentrauben, die Gerüche von Crepes, Maronen, altem erhitztem Frittieröl - lagen Häufchen an Häufchen, hellbraun, grau, manchmal rötlich; man mußte achthaben, nicht hineinzutreten. Der lärmende, pulsierende Steinorganismus schien sich zu nähren davon, ein gewissermaßen urbaner inverser Stoffwechsel, dessen Stickstoffbedarf Boulevards und Métroschächte speisten, den Abfall und Fäkalien am Funktionieren hielten und dessen Wurzeln aus der Kanalisation heraufzüngelten. Die überall sprudelnden Bordsteinbäche, die das hügelige Stadtrelief abströmen ließ, waren Adern und

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