Die Orgelpfeifen von Flandern
Morgen sprechen wir dann. -Mußt du zur Arbeit?«
Sie schüttelte sehr langsam, wie bekümmert, den Kopf.
»Dann ist ja Zeit. Wir frühstücken zusammen. Hast du Butter im Haus?«
Sie verneinte, lethargischer noch.
»Ich hol’ uns welche, auch Croissants. Und Marmelade.«
Sie lachte leise. »Auch ein weichgekochtes Ei?«
Er nickte, streichelte ihr über das kräftige Haar, das dunkler war als die Nacht um sie her.
»Du mußt mich aber noch lieben, Abèl. Auch wenn ich einschlafen sollte. Gerade dann, Abèl. Versprichst du mir das? Du mußt in mir einschlafen. Bitte!«
Sie schliffen kraftlos unter den Platanen entlang, am Supermarkt vorbei, passierten das Lederwarengeschäft, den Flamenbogen, standen vor dem Eingang. Endlich surrte der schwere Glasrahmen auf. Sie standen vorm Fahrstuhl, drückten ihn her.
»Du mußt mir die Ziffern nachher aufschreiben«, sagte er, »damit ich morgen früh wieder reinkann. -Welche Etage?«
Sie träumte offenbar bereits. Ansgar schlang den Arm fester um sie, führte sie in den Lift, eine Hand unter ihrer Achsel.
»Der Schlüssel...«
»Drück einfach die Klinke herunter.«
»Hast du keine Angst, daß jemand einbricht?«
»Bei mir?« Sie lachte stumm. Eine abwesende, verlassene Heiterkeit lief ihr über die Haut.
A nsgar staunte. Was er sah, als Jézabel Licht gemacht hatte, war unbegreiflich. Ein heftiger Druck legte sich auf den Magen. Schwere, tiefe Berberteppiche deckten die Böden. Gleich links eine Garderobe aus teuerem geschmiedetem Gitterwerk. Daneben ein hoher Jugendstilspiegel. Im Wohnzimmer, rechts an der Fensterfront, stand ein Fernsehgerät, mattschwarzes Chassis, davor eine Couch- und Sesselgruppe mit kubistischen Mustern. Ihr gegenüber ein Kirschholztisch mit vier Stühlen. An den Wänden Kandinsky-Reproduktionen. Neben der Tür ein dunkler Servierboy, verschiedenste Flaschen darauf.
»Du hast dich verändert«, sagte er.
»Hast du’s dir so nicht gewünscht?«
»Und deine Bücher?«
»Bücher?« Sie hing sich an ihn, küßte ihn wie um Lebenskraft. Tatsächlich spannte sich ihr Körper, schnellte auf. Dann ließ sie ab von ihm und fiel glucksend, fast schon wieder übermütig, in die weißblaue Couch, über der ein weiter Lampenschirm hing. In feinem Bogen spannte sich ihm ein dünnes, bei Berührung wippendes Rohr zu, das am Boden in einem schwarzen Sockel verschwand.
Er warf den Mantel über eine Sessellehne. »Ja, Bücher.«
»Wozu brauch’ ich jetzt noch Bücher, Abèl?«
»Was ist mit dir passiert?«
»Gefall’ ich dir nicht?«
Allerdings gefiel sie ihm; doch ließ sich dem trauen? Argwohn nagte an ihm. Blitzte nicht durch Jézabels müden Blick bisweilen derselbe Rigorismus, unter dem er früher so sehr gelitten hatte und den er schließlich geflohen war? Verstohlen und hektisch hatte ich vor einem Jahr, kaum daß sie zur Arbeit gegangen war, meine paar Habseligkeiten zusammengerauft. Welch ein schwerer, dumpfer Hieb in meinen Nacken war der Knall gewesen der hinter mir zuschlagenden Tür, welch ein bitterer Stich das Zuschnappen des Schlosses! Ich bebte vor Panik. Doch es war mir keine Wahl geblieben. Jede Stunde wurde es schwieriger, mich von Jézabel zu lösen. Ich mußte fort, nicht nur um meinet-, sondern um unserer beider willen. Ein weitaus weniger nüchterner Mensch als ich hätte gesehen, wohin wir trieben.
Er riß sich aus den Gedanken. »Womit hast du das alles bezahlt?« fragte er tonlos.
»Hab’ ich nicht, Dummerchen«, sagte Jézabel, schlug die Beine übereinander und wippte mit dem rechten Fuß. »Entsinnst du dich noch meines Zimmers in der Rue d’Angers? Das waren unsere glücklichsten Tage.«
Jézabel hatte dort bei Bekannten zur Untermiete gewohnt. Sie liebte den Stadtteil. So stelle sie sich den Süden Englands immer vor. Seit sie klein gewesen sei, habe sie in Cornwall leben wollen. Sie kenne einen Ort dort, Helston heiße er. - Doch kaum hatte ich ein paar Nächte bei ihr verbracht, gab es Ärger. »Wir ziehen einfach um. Ich hab’ schon was an der Hand. Algerier, die brauchen das Geld. Nicht mal weit vom Markt.« -Es gab dort keine trockene Wand, unterm Linoleum blühte der Schimmel. »Das kriegen wir schon hin«, sagte sie, aber rührte keine Hand. Ich scheuerte, wischte, rieb den Schmutz aus den Ecken, versprühte Insektizide. Sie kauerte, war sie heimgekommen, hinter ihren Büchern, die sich auf und zu Füßen des alten aufgesprungenen Tisches stapelten, und schaute mit ihren wilden, ernsten Augen
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