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Die Orgelpfeifen von Flandern

Die Orgelpfeifen von Flandern

Titel: Die Orgelpfeifen von Flandern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alban Nikolai Herbst
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zahlt euch ja tot für die Mieten. Das hat mir, ich weiß nicht wer, erzählt.« Er lachte. »In dem Hotel, worin ich mein Zimmer habe, im ›Terminus‹, hier gleich um die Ecke ...«
    Sie lächelte, wissend, erneut.
    »... sind die Toiletten eine Katastrophe. - O bitte verzeihen Sie, wenn mein Gerede Sie langweilen sollte! - Möchten Sie etwas trinken?« Er wiederholte seine Frage, bemühte das fremde, ihm zähe Idiom: »Sie ... wollen ... noch einen Kaffee ... vielleicht einen Wein?«
    Jetzt verstand sie tatsächlich. »Ja«, sagte sie mit dem hiesigen gleitenden Laut.
    »Das ist schön«, sagte er. »Das ist sehr schön.«
    Wieder sprach sie etwas. Es war offenbar eine Frage.
    »Bitte? - Ach, nur so. Sie gefallen mir, wirklich, erinnern mich an jemanden. Ich spreche sonst Frauen nicht an. Ich bin, müssen Sie wissen, ein bißchen ... scheu.« Bis der Wein kam, beschauten sie einander stumm.
    Sie stießen die Gläser aneinander. Sie formulierte einen ziemlich entschieden klingenden Satz. Er erschrak. »Verzeihung?«
    Sie wiederholte, und als er ihr, erstaunt und ohne Begriff, in die herrlichen Augen sah, sagte sie mit Nachdruck: »500.«
    Er brauchte ein, zwei Sekunden, um den Sinn zu erfassen, zog sich zusammen unter der Haut. Und brachte deshalb das Wort kaum heraus. »Nein!« hauchte er endlich, voll moralischer Despektion, und schüttelte heftig den Kopf. Sie zuckte nur die Achseln, entschied sich, warf ihm einen letzten, belustigten Augenaufschlag zu, legte zwei Geldstücke neben ihr Glas, nahm ihren Mantel und ging.
    Es war schon halb eins.

    E r stand auf, zahlte ebenfalls. War es nicht absurd genug, dachte er, sich in diesem Stadtteil einzuquartieren statt auf Touristenart im Zentrum? Er trat in die abgekühlte Luft, schritt die Straße hinauf, bog rechts ein. Durch ein paar zerwehte Wolkenschlieren drückte sich Sonne und warf, Netzen gleich, schmale, taftene Lichtbahnen zwischen die Orgelpfeifen. Er faßte, typischer Reflex, nach der Geldbörse. Sie steckte nicht in der Hintertasche. Für einen Moment schoß Schreck auf. Hatte er sie im Lokal vergessen? Er griff in die Innentasche des Jacketts. Der Zeitungsausschnitt geriet ihm zwischen die Finger. Warum bewahrte er den auf? Er zog das Papier heraus, glättete es. Der Artikel war ein halbes Jahr alt, vom 10. April. Seltsam. Nicht einmal eine Fotografie. Ein kaum manifester Schmerz zog von links hinterm Ohr bis zur Kalotte. Ansgar kniff die Augen zusammen. Er brachte es einfach nicht fertig, die Seite wegzuwerfen. Statt dessen stopfte er sie zurück. Und war erleichtert. Denn da steckte sie ja, seine Börse. Er beruhigte sich.
    Die Straße überquerte das Wasserbecken, das südöstlich auf einen in Renovierung befindlichen Rundbau stieß, und führte bald an einem Hügelpark entlang, der mit goldgelben Laubfarben spielte und vor Nässe strahlte. Dahinter erstreckte sich, über alle Maßen unpassend, ein weit von Mietskasernen umstandenes, erhöhtes Gelände. Eine kleine, unbelebte, ahornbestandene Straße führte hindurch. Es war Mittag mittlerweile; die Geschäfte hatten geschlossen. Zwei-, höchstens dreistöckige Klinker- und Fachwerkhäuser, mitunter gäßchen-durchbrochen, schlummerten den Hang hinunter oder einen nächsten hinauf. Dann wieder englisch anmutende Reihenhäuser. Helston, ausgerechnet Cornwall, kam Ansgar in den Sinn. Die Gegend wäre ländlich gewesen, hätte man nicht entfernt Hochhausbauten und die Dächer der Mietskasernen erblickt, zwischen denen eingekapselt sich diese Idylle verbarg. Die Mitte eines verschlafenen Fleckens schmückte kniehoch schmiedeumgittertes Grün, eine antikisierte Steinfigur darin. Sieben Straßen führten sternartig darauf zu. Gegenüber einer Autowerkstatt ein Lokal. Davor drei rauchende Männer. Dösend sahen sie Ansgar an. Auch hier wurde ein Pulk Straßenfeger angefahren. Sie fegten, kaum ausgeladen, durch herabgewehtes Laub, riefen heisere, kehlige Laute. Ansgar zog weiter, überschritt den Festplatz auf der anderen, südlichen Seite der Mietskasernen, an Supermärkten und Schuhgeschäften vorbei, traf auf eine befahrene Allee und passierte sie quer. Blieb stehen. Wandte sich um. Er hatte plötzlich das Gefühl, die Ruhe drüben sei seinetwegen vorgeschürzt worden, und das leise Atmen des Ensembles habe ihn, persönlich ihn, täuschen wollen. Darunter stecke wie in Schützengräben ein wilderer und destruktiverer Gegner als nun hier, in der vor Produktivität brodelnden Stadt. Er fühlte sich

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