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Die Orgelpfeifen von Flandern

Die Orgelpfeifen von Flandern

Titel: Die Orgelpfeifen von Flandern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alban Nikolai Herbst
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beobachtet, sogar wiedererkannt. War er nicht doch schon einmal dortgewesen? Heftig drehte er sich fort, war indessen kaum zwanzig Meter geschritten, da kamen ihm, als wäre seit morgens überhaupt keine Zeit verstrichen, die Chassidim entgegen. Aber wie denn?! Das konnten kaum dieselben sein ... Er imaginierte das. Oder beschattete man ihn? Welch ein Unsinn! Verwitterte Gründerzeitgiebel blickten auf ihn hinab wie in eine Schlucht. Ein Heer orthodoxer Juden quoll in diesem selben Moment geräuschlos aus sämtlichen Hauseingängen. Ein Mann, unter dessen Mantelsaum der Tzitzot hervorzipfelte, führte gemessen das kindliche Spiel eines Jungen, der bereits die Kipa trug, in die Würde des Patriachats. Ansgar widerstand nur mühsam dem Impuls wegzulaufen. Zudem ignorierte man ihn. Gleichviel, er spürte nur zu genau, wie um ihn sich etwas schraubte, daß man ihn hartnäckig festklammern wolle, um ihn zur Verantwortung zu ziehen; doch wußte er ja nicht, wofür. Hätte er sich verteidigen wollen, er wäre - das war gewiß - nicht einmal angehört worden.

    E r erreichte abermals, nun aus Süden, den Park. Laub glitzerte dicht und feucht auf den Wegen. Weite Flächen schimmerten gelb und rostrot um die Wurzeln spirriger Erlen, Buchen, Kastanien. Ein geradezu romantischer Zaubergarten, ohne alle Symmetrie, führte sachte auf Hügel, brach plötzlich den Weg schroff durch Fels, gab unversehens dem Blick die Freiheit großzügig gewellter Wiesen. Eben noch hatte man Buschwerk und Gesträuch zur Seite, da fielen ungefügte Stufen steilab, und unten, im Tal, leuchtete die silberne Fläche eines Sees, worin, tief unter der den Park wie von jenseits umsäumenden Stadt, sich ein bäumchenbestandener, von immergrünen Zweigkaskaden überschütteter Inselberg erhob, einen pavillonartigen Tempel aus weißgrauem Stein obenauf, das luftige Kuppeldach säulengehalten. Ansgar wanderte auf der Höhe über kiesknirschende Alleen. Jogger atmeten Dampf an ihm vorbei. Die Luft roch nach nasser Erde und Fäulnis. In diesem Duft wehte etwas so sehr Vertrautes, daß Ansgar ihn tief in die Lungen sog. Die Kühle schnitt in die Nasenflügel. Beim Bemühen, sich etwas lang Vergessenes ins Gedächtnis zurückzurufen, befand er sich ganz dicht am Rande des Erinnerns, ohne doch der Erinnerung selbst habhaft werden zu können.
    In diesem Moment sah er sie. Es war die hübsche Prostituierte, die ihm von unten her zuwinkte; er erkannte sie an ihren roten Stiefeletten. Sie lachte wohl, gestikulierte. Er konnte nicht anders, fing zu laufen an, eilte die Stufen hinab -, aber als er endlich am See angekommen war, war Louise schon wieder fort. Fünfzig Meter weiter leuchtete ihr helles, flatterndes Haar und verschwand in einer Jähe. Wasser rauschte von dort. Es blieb keine Zeit, zu Atem zu kommen. Der Weg schlüpfte in eine Kalksteingrotte, worin aus wenigstens dreißig Metern Höhe sich ein Bach auf eine Stalagmitengruppe warf und zwischen glitschigen, glatten Felsquadern in kleinen Schnellen zum See davonsprudelte. Überall Sprühstaub und Moos. Stumm rief Ansgar nach Louise, nein, tat nicht wirklich den Mund auf, vernahm gleichwohl ein Echo, das sich an dem Gewölbe brach, zerstochen, aufgerissen zwischen den länglichen Tropfsteingebilden der Kathedralendecke, weggeschwemmt im Strudel abgespülter Algen. Blattgeruch zerflatterte in der durchrieselten Luft.
    Ansgar gab auf. Mit hängenden Schultern verließ er, dem Weg zu einem zweiten Ausgang folgend, die Grotte. Über die nackte Felsenschlucht spannte sich eine steinerne Rundbrücke. Ein paar Stufen führten auf einen Hangquell zu, nur gelinde höher gelegen. Ganz oben schimmerte die helle Front eines länglichen Gebäudes, einer Gaststätte wahrscheinlich, deren Baustil an bretonische Landhäuser denken ließ. Wenige Minuten später stand Ansgar davor. Es war tatsächlich ein Lokal, offensichtlich gehobenen Niveaus. Die Fassade war, in derselben, wenngleich minder blassen Tönung des Fachwerks im oberen Geschoß, rostrot über den Fenstern verklinkert. Ein paar Treppen führten zu einer Tür im Hochparterre, die sich nicht höher streckte als die vier viergeteilten Fenster je daneben. Gemsfarbene Säulen zierten die Ansicht. Man hatte einen Holzschuppen mit Schrägdach rechts an die Seite gezimmert. Ansgar drehte sich um. Die Fenster blickten zum Tempelfelsen; eine lange Hängebrücke führte ihm zu.
    Schon wollte Ansgar die paar Stufen hinaufsteigen, um einzukehren - einen Kaffee hätte er sich hier

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