Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
Ingegnere. »Sie können die Kirche betreten und Ihre Gottesdienste feiern. Es gibt nicht das geringste Problem.«
Der Priester nickte erleichtert. »Das sind gute Nachrichten. Darf ich Sie vielleicht zu einem Kaffee einladen? Ich würde mich freuen, wenn …«
Der Ingegnere winkte ab. »Tut mir leid. Es warten noch andere darauf, dass ich mir ihre Gebäude ansehe.«
Er lächelte glatt, und als er die Stufen vor der Eingangstür hinuntergegangen war, blieb ein Hauch Rasierwasserduft zurück. Drei weitere Arbeiter kamen aus der Kirche. Im Vorbeigehen grüßten sie den Padre kurz und gingen dann zu ihrem Wagen, den sie neben dem kleinen schwarzen Mercedes des Ingegnere auf dem Kirchplatz abgestellt hatten. Auf der Seitentür prangte das Logo des Ingenieurbüros.
Der Padre atmete tief durch. Das Duftwässerchen hatte sich verflüchtigt, und es kam dem Priester so vor, als schmecke die Luft jetzt besser. Nach Erde und Gras, nach den Nadelbäumen der Toskana.
Als die beiden Wagen hinter der nächsten Ecke verschwunden waren, drehte er sich um und ging die wenigen Schritte in den Kirchenraum. Niemand würde zur Beichtstunde kommen. So konnte er seinem Herrn alleine nahe sein.
Immer wenn er die Kirche betrat, erlebte er so etwas wie eine seelische Befreiung. Es war, als fielen alle Sorgen, alle Nöte von ihm ab. Er fühlte sich Gott nah – und das bedeutete, dass er sich zugleich klein, aber auch ungeheuer stark vorkam. Es war, als lade sich in seinem Inneren eine Batterie auf.
Jetzt war dieses Gefühl viel stärker als sonst. Es war überwältigend.
Seine Schritte hallten noch in dem riesigen Raum, da ließ er sich vor dem Altar auf die Knie nieder – gleich auf den harten, kalten Stufen, ohne einen Blick auf den zu werfen, den er anbetete: den Gekreuzigten, dessen mattgraue Gestalt im Hintergrund zu erkennen war. Die Figur, die ein Handwerker im 18. Jahrhundert aus Holz geschnitzt, bemalt und lackiert hatte, schimmerte in dem diffusen Licht.
Der Padre bekreuzigte sich.
Danke, Herr, dass uns nichts geschehen ist. Hilf denen, die an dem Erdbeben nicht so glimpflich vorbeigekommen sind … Herr, ich bitte Dich, lass die Verletzten wieder genesen. Und gib ihnen die Erleuchtung, dass nur Du es warst, der sie vor größerem Unheil bewahrt hat. Schick sie in den Schoß Deiner Kirche zurück. Vertraue sie Deinem Diener an, der sich glücklich schätzen wird, die verlorenen Schäflein wie eine Herde zusammenzuhalten. Bald ist Sonntag, und wie herrlich wäre es, die nächste Sonntagsmesse zu einem Dankgottesdienst …
»Padre?«
Die Stimme drang nur langsam in sein Bewusstsein. »Padre, bitte … hören Sie mich?«
Sie klang heiser, diese Stimme. Lag das nur daran, dass der Mensch, dem sie gehörte, zu flüstern versuchte?
»Kann ich Sie sprechen? Bitte. Es ist wichtig.«
Die Beichtstunde. Padre Antonio hatte sie vergessen.
Er beendete sein Gebet, machte ein Kreuzzeichen und erhob sich. Da stand eine kleine, dickliche Gestalt. Der Padre kannte den Jungen. Er war einer von denen, die abends oft auf dem Platz vor der Kirche herumlungerten. Sie hatten stets ihre Mopeds dabei, sorgten für einen Heidenlärm, und vor allem nach dem Wochenende musste Renzo, der Küster, am Morgen haufenweise Scherben von leeren Getränkeflaschen zusammenkehren.
»Was willst du?«, fragte der Priester. »Ich bin beschäftigt.«
Der hoffnungsvolle Gesichtsausdruck, mit dem er den Padre angesprochen hatte, wich einer Miene der Bestürzung.
»Aber ich dachte …« Der Junge brach ab, suchte nach Worten.
»Ich muss die Beichte abnehmen. Ich habe zu tun.«
Die Bestürzung verschwand, und das runde Gesicht strahlte.
»Aber deswegen bin ich hier.«
»Tatsächlich?«
»Aber sicher, Padre.«
Der Priester überlegte. War es jetzt schon so weit gekommen, dass ihm die Jugendlichen aus dem Dorf in der Beichte einen Streich spielen wollten? Da gab es nur ein Gegenmittel: Strenge.
»Ich kann mich nicht erinnern, dass du jemals in der Sonntagsmesse gewesen bist.«
Der Junge nickte. »Sie haben recht. Aber ich habe so wenig Zeit. Zu Hause bete ich regelmäßig. Zweimal am Tag. Wirklich. Das kann ich Ihnen versichern.«
Padre Antonio runzelte die Stirn. Wer war dieser Junge? Von seinem Äußeren her mochte er siebzehn oder achtzehn sein, aber irgendetwas wirkte, als sei er jünger. Er machte nicht den Eindruck dieser Machos, die sich vor der Kirche mit Mädchen kabbelten. Und wenn Padre Antonio sich recht erinnerte, hatte er ihn immer etwas
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