Die Päpste: Herrscher über den Glauben - von Petrus bis Franziskus - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Revolution. Die Debatten des Vorgängerkonzils von Trient blieben drei Jahrhunderte lang verschlossen, um jegliche Diskussion zu vermeiden. Der letzte Band der kritischen Edition erschien erst im Jahr 2001. »Es entstand tatsächlich eine eigene Theologie des Konzils«, schreibt der Dogmengeschichtler Knut Wenzel.
Die Hierarchie im Vatikan
Joseph Ratzinger hatte damals etwas von einem anderen Joseph. Er war der Joschka Fischer, der (verhältnismäßig) junge Provokateur, der alle mit seinen Thesen durcheinanderbrachte, vom Neubeginn träumte und zwei Generationen später ganz oben im Apparat stehen sollte. Es waren die Tage des Joschka Ratzinger.
Allerdings mit einem grundlegenden Unterschied. Joseph der Theologe brauchte nicht erst zehn Jahre, um die Grenzen des Alles-in-Frage-Stellens zu sehen und zu verstehen, dass es eine Dialektik von Erneuerung und Bewahren gibt.
Frings und seine beiden Periti, Ratzinger und Hubert Luthe, lebten während der Sitzungsperioden in einer Kommune, der »Anima«, unmittelbar am Petersdom, wo deutsche Priester und Seminaristen hinter einem Friedhof Tisch und Bibliothek teilen. Die Anima wurde zum Hauptquartier der Konzilsrebellen. Hier entstanden Papiere, Memoranden, Denkzettel, Einsatzpläne gegen die Kurie. Ratzingers erstes Non-Paper zur Offenbarung wurde später, auf der letzten Sitzung am 18. November 1965, als »Dei verbum« (»Das Wort Gottes«) in seinen großen Linien offizielle Position der Kirche.
Der umfangreichste und zentrale Text des Konzils ist »Gaudium et spes« (»Freude und Hoffnung«). Diese Konstitution fiel quasi aus heiterem Himmel, ungeplant und umwerfend wie mancherlei Empfängnis. Die Einleitungssätze kann jeder Armen- und Arbeiterpriester auswendig: »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.« Wir sind ein Volk, Gottesvolk.
Der »Syllabus errorum«, das »Verzeichnis der Irrtümer«, hatte 1864 die Menschenrechte noch als Blasphemie verbannt. Dem Vaticanum II gelingt es dagegen, dem Menschen zu geben, was des Menschen ist, und Gott ebenso. Denn weil der Mensch als Gottes Ebenbild geschaffen wurde, gibt es keinen Grund, ihn wegen Geschlecht, Hautpigmentierung oder Steuerklasse zu benachteiligen. Die personale Würde des Menschen ist ihm wesenhaft und gründet in Gott.
Das Konzil ächtete Mord, Völkermord, Abtreibung, Selbsttötung, Euthanasie, Folter, psychischen Zwang, Polizeiwillkür, Sklaverei, Prostitution, Menschenhandel in allen Formen und unmenschliche Lebens- und Arbeitsbedingungen. All das sei »in höchstem Maß ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers«.
Die »Zeichen der Zeit«, von denen »Gaudium et spes« spricht, wie Frauenemanzipation, Arbeiterfrage, Wachstumskrise, Entkolonialisierung, sind keine Menetekel des Bösen, sondern Herausforderungen. Sie gehen die Kirche an. Der Katholik wird vor die Aufgabe des Politischen gestellt. Er soll »sich nicht weigern, das zu tun, was das Gemeinwohl objektiv verlangt«.
»Gaudium et spes« ist weit von jenem billigen Kulturpessimismus entfernt, der besorgte Talkshowgäste und päpstliche Sonntagsreden umtreibt. Der »Wandel der Wirklichkeit«, vor allem Modernisierung und technischer Fortschritt, sind für die Mehrheit der Konzilsväter – natürlich gab es eine starke Fraktion der Skeptiker – kein Grund, der Wirklichkeit auszuweichen. Es geht darum, »das Licht der Offenbarung mit der Sachkenntnis aller Menschen in Verbindung zu bringen«. Das ist ein ganzes Programm. Das Konzil bedauert, die Autonomie der Wissenschaft nicht genügend geachtet zu haben.
Das ist noch keine Rehabilitation von Galileo Galilei – das wird erst 1992 Johannes Paul II. gelingen. Aber es macht den Weg frei für einen durchaus produktiven Dialog zwischen Vatikan und Astrophysikern, Teilchenforschern, Genetikern und Evolutionsbiologen.
Wenn es keinen Gegensatz zwischen Schöpfertum und schöpferischem Handeln des Menschen gibt, dann steht einem die Welt offen. Die Passagen des Textes zur Arbeit bilden die Grundlage für alles, was später Befreiungstheologie und Arbeiterpriestertum werden wird. Tätiges Handeln als Gottes-Dienst in der Perspektive der »Erreichung einer größeren Gerechtigkeit, einer umfassenderen Brüderlichkeit und einer humaneren Ordnung der gesellschaftlichen
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