Die Päpstin
Verstoß gegen Gottes Gesetz.«
»Warum?«
»Weil es so in der Heiligen Schrift steht«, erwiderte Matthias und zitierte: »›Denn der Gatte ist der Beherrscher des Weibes;
deshalb sollen die Weiber sich in allen Dingen dem Manne unterwerfen.‹«
|25| »Warum?«
»Wa- warum?« Matthias war perplex. Diese Frage hatte ihm noch niemand gestellt. »Na ja, ich nehme an, weil … weil Frauen von
Natur aus den Männern unterlegen sind. Männer sind größer, stärker und klüger.«
»Aber …«, setzte Johanna zur Erwiderung an, wurde jedoch von ihrem Bruder unterbrochen.
»Das waren vorerst genug Fragen, Schwesterchen. Du müßtest längst im Bett sein. Komm jetzt.« Er trug sie zum Bett und legte
sie neben Johannes, der bereits in tiefem Schlaf lag.
Wie immer war Matthias lieb zu ihr gewesen. Um ihm seine Freundlichkeit zu danken, schloß Johanna die Augen, deckte sich zu
und tat so, als würde sie schlafen.
Doch sie war viel zu aufgeregt, als daß sie hätte schlafen können. Sie lag in der Dunkelheit und spähte auf den leise schnarchenden
Johannes, dessen Kinnlade schlaff herunterhing; der Mund stand offen.
Er ist schon acht Jahre alt und kann immer noch nichts aus dem Buch der Psalmen aufsagen.
Johanna war erst fünf, doch sie kannte die ersten zehn Psalmen bereits auswendig.
Folglich war Johannes nicht so klug wie sie. Aber er war ein Junge und hätte klüger sein
müssen
. Wie konnte Matthias sich so sehr irren? fragte sich Johanna. Er wußte doch alles, und später würde er Priester werden wie
ihr Vater.
Johanna lag wach in der Dunkelheit und ließ sich diese Dinge wieder und wieder durch den Kopf gehen.
Bei Anbruch der Morgendämmerung schlief sie ein, doch ihr Schlaf war ruhelos, und sie wurde von Träumen über gewaltige Kriege
zwischen eifersüchtigen und zornigen Göttern heimgesucht. Der Engel Gabriel persönlich kam mit einem Flammenschwert vom Himmel,
um mit Thor und Freyja den Kampf zu wagen. Die Schlacht war wild und schrecklich, doch am Ende wurden die falschen Götter
zurückgeschlagen, und Gabriel stand triumphierend vor den Toren des Paradieses. Sein Flammenschwert war verschwunden; in seiner
Hand funkelte ein kurzes Jagdmesser mit Hirschhorngriff.
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|26| 2.
Der hölzerne Griffel bewegte sich schnell und bildete Buchstaben und Worte im weichen gelben Wachs der Schreibtafel. Aufmerksam
blickte Johanna ihrem Bruder Matthias über die Schulter, während dieser die Lektion des heutigen Tages niederschrieb. Dann
und wann hielt er inne und wedelte mit einer Kerzenflamme über die Schreibtafel, damit das Wachs nicht zu schnell hart wurde.
Johanna schaute Matthias sehr gern bei der Arbeit zu. Mit dem spitzen Holzgriffel drückte er Furchen in das formlose Wachs,
die in Johannas Augen eine geheimnisvolle Schönheit besaßen. Nur zu gern hätte sie verstanden, für welchen Buchstaben jedes
Zeichen stand. Wie stets verfolgte sie auch diesmal voller Aufmerksamkeit alle Bewegungen des Griffels, als wollte sie den
Schlüssel finden, der ihr die Bedeutung enthüllte, die sich hinter der Gestalt der verschiedenen Linien im Wachs verbarg.
Matthias legte den Griffel zur Seite, lehnte sich im Stuhl zurück und rieb sich die Augen. Johanna nutzte die Gelegenheit,
beugte sich über das Schreibpult und zeigte auf eins der Worte.
»Was hat das hier zu bedeuten?«
»Geronimus. So hieß einer der großen Kirchenväter.«
»Geronimus«, wiederholte Johanna langsam. »Das hört sich so ähnlich wie mein eigener Name an.«
»Weil einige Buchstaben dieselben sind«, erwiderte Matthias lächelnd.
»Zeig sie mir.«
»Lieber nicht. Es würde Vater nicht gefallen, wenn er’s herausfände.«
»Das glaube ich nicht«, bettelte Johanna. »Bitte, Matthias. Ich möchte es so gern wissen. Zeig es mir. Bitte, bitte.«
Matthias zögerte. »Also gut. Was kann es schon schaden, |27| wenn ich’s dir beibringe, deinen Namen zu schreiben. Es könnte dir sogar von Nutzen sein, wenn du eines Tages verheiratet
bist und deinen eigenen Haushalt führen mußt.«
Er legte die Hand auf die der Schwester und half ihr, die Buchstaben ihres Namens ins Wachs zu ritzen: J-O-H-A-N-N-A, mit
einem schön geschwungenen ›A‹ am Schluß.
»Gut. Und jetzt versuch es allein.«
Johanna packte den Griffel ganz fest, brachte ihre Finger in die seltsame, unbequeme Schreibhaltung und zwang sie, jene Schriftzeichen
zu bilden, die sie zuerst vor dem geistigen Auge formte. Einmal stampfte sie
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