Die Papiermacherin
Tagelöhner wollte gerade die Fasern zu den anderen legen und versicherte wortreich, dass er diesen Abfall später noch beseitigen werde, da kam Li plötzlich ein Gedanke. »Gebt sie mir!«
Sie nahm ihm das feuchte Stück aus teilweise zerschlagenen, nur noch schwach zusammenhängenden Fasern aus der Hand und hob auch die Stücke vom Boden auf.
Während sie das Knäuel zwischen den Händen zusammenpresste, quoll Feuchtigkeit hervor und rann ihr die Arme entlang. Ein Seil … Hanf … Li erinnerte sich, wie die Händler in den Gassen von Bagdad daraus Haschisch gewonnen hatten. Aber sollte sich das nicht auch zu Papier verarbeiten lassen? Sicher nicht mit demselben guten Ergebnis wie bei Papier, das aus reinen Lumpen gemacht wurde, aber dafür vielleicht sehr viel preiswerter! Schließlich überstiegen die Preise für Lumpen bei Weitem jene für Hanfpflanzen – die im Übrigen von allein heranwuchsen, wenn man sie an einem geeigneten Ort anbaute und genügend wässerte, während Kleider erst mühsam gewoben werden mussten und oft lange genug getragen wurden, bis ihre Fasern an vielen Stellen auseinanderfielen, noch ehe sie überhaupt in einem Stampfbottich landeten.
Sie nahm die Reste des Gürtelseils in den Nachbarraum mit. Es käme auf einen Versuch an!, ging es ihr durch den Kopf.
Im Reich der Mitte verwendete man durchaus pflanzliche Zusätze bei der Papierherstellung. Bambus war dazu hervorragend geeignet. Aber Bambus gab es in den Ländern des Westens nicht. Über die Ursache konnte sie nur rätseln, denn das Klima im östlichen Reich der Mitte unterschied sich von dem seines westlichen Gegengewichts weit weniger, als dass Bambus hier nicht hätte gedeihen können. Aber er war in diesen Gegenden nun einmal vollkommen unbekannt. Li hatte bereits erste Versuche unternommen, landesübliche Holzarten in den Papierbrei einzubringen. Doch das gab sie schnell wieder auf, denn die Resultate waren mehr als unbefriedigend. Kleinere und größere Holzstücke verunreinigten die so entstandenen Blätter. Das war nicht nur ein Problem der Ästhetik, sondern es behinderte mitunter den Schreibfluss, wenn man mit Feder und Tinte über das Papier fuhr.
Die Frage, was sie bei ihren Versuchen falsch gemacht hatte, beschäftigte Li seitdem. Denn wenn sie beobachtete, wie Wespen ihre Papiernester aus dem Holz von Dachbalken und Fensterläden erschufen, war sie überzeugt, dass diese Geschöpfe ihre Kunst an irgendeinem entscheidenden Punkt besser beherrschten als sie selbst.
Vielleicht finde ich eines Tages den Fehler heraus!, ging es ihr durch den Kopf. Ihr Blick glitt noch einmal zum Fenster. Die Läden standen offen. Ein dünnmaschiges Eisengitter verhinderte, dass jemand etwas hereinwerfen oder gar durch das Fenster eindringen und etwas stehlen konnte. Nur der obere Teil war mit Alabaster verblendet, sodass man darunter hinausblicken konnte – oder herein. Es gab immer wieder Menschen, die stehen blieben und ihr dabei zusahen, wie sie Wasserzeichen formte.
Li trat näher ans Fenster und dachte daran, wie sie Arnulf von Ellingen nachgeblickt hatte.
Ihr wurde warm bei dem Gedanken, und die Frage, ob man aus den Fasern eines Hanfseils Papier machen konnte, das diese Bezeichnung verdiente, erschien ihr mit einem Mal als sehr nebensächlich. Sie dachte an den Blick seiner grünen Augen, den Klang seiner Stimme und die Art, wie er lächelte. Wenn es geschehen konnte, dass zwei Menschen sich wiedertrafen, die allen äußeren Umständen nach so wenig dafür bestimmt zu sein schienen wie sie und Arnulf – dann durfte es eigentlich nichts geben, was nicht möglich war. Li spürte ihr Herz schneller schlagen – aber nicht aus Furcht oder Erschöpfung wie bisher so oft in ihrem Leben, sondern vor freudiger Erregung.
Am Abend schritt Li vorbei an den hohen, einschüchternd wirkenden Säulen in einem der endlosen Gänge des Kaiserpalastes. Christos begleitete sie und trug in jeder Hand ein großes Bündel mit Papierbogen. Sie waren sorgfältig in Leinentücher eingeschnürt.
Li trug ebenfalls ein Bündel unter dem Arm. Während des kurzen Wegs bis zum Kaiserpalast hatte sie es stets so unter ihrem Umhang verborgen, dass es möglichst unauffällig wirkte.
Sein Inhalt war unbezahlbar.
Es handelte sich um die Form jenes Wasserzeichens, das für das Briefpapier des ersten Logotheten für Dokumente verwendet wurde, die dieser im Namen des Kaisers selbst unterzeichnete. Botschaften, die einen offiziellen Charakter hatten und
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