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Die Papiermacherin

Titel: Die Papiermacherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Conny Walden
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dass die Möglichkeit, Geschichten in Bildern darzustellen, mehr Menschen dazu verleitete, das Lesen oder gar das Schreiben nicht zu erlernen, da man alles Wesentliche der Heiligen Schrift ja aus Ikonen erfahren konnte, profitierte ihr eigenes Gewerbe doch genauso von dem ausgeprägten Hang zur Malerei. Papier taugte natürlich nur in den seltensten Fällen als Grundlage solcher Bildwerke. Dazu war es nicht haltbar genug, und außerdem hafteten die Farben ihm nicht in gleicher Weise an, wie es bei Leinwänden, Holz oder Stein der Fall war.
    Bevor die Ikonenmaler jedoch zu Werke gingen, fertigten sie oft unzählige Skizzen an. Und für diese Skizzen brauchten sie ein Material, auf das sich mit Kohle gut zeichnen ließ und das darüber hinaus verhältnismäßig preiswert herzustellen war. So gehörten inzwischen auch Malerwerkstätten zu ihren Kunden.
    »Evangelia!«, riss sie ein weiterer, durchdringender Ruf aus ihren Gedanken. Jetzt endlich gab sie sich einen Ruck. Sie ging nach nebenan. Der Mann, der gerufen hatte, hieß Christos und gehörte zu den Tagelöhnern, die sich bei ihr verdingten. Er war von Geburt an blind. Der Blick seiner Augen war leer. Aufgrund seiner Blindheit hatte er sich immer schwergetan, irgendwo Arbeit zu finden. Meist schlug er sich als Bettler vor dem Portal der Hagia Sophia durch, und für eine gewisse Zeit war er sogar am Eingang des Hippodroms damit beschäftigt gewesen, gegen Gebühr Sitzkissen auszuleihen. Mit seinen feinen, empfindsamen Fingerspitzen konnte er jede Münze sicher erkennen, und es war in dieser Hinsicht gewiss leichter, so manchen unkundigen Sehenden zu betrügen als ihn. Aber die Verwaltung des Hippodroms war anderer Ansicht. Man schickte ihn schließlich fort, weil der zuständige Hofbeamte, dem die Pferderennbahn samt Bewirtschaftung übertragen worden war, einem Mann wie Christos diese Arbeit auf Dauer nicht zutraute. Christos allerdings äußerte Li gegenüber immer den Verdacht, dass der betreffende Beamte solche Posten einfach bevorzugt mit Verwandten besetzte.
    Li hielt große Stücke auf ihn. Und obwohl sie ihn nicht offiziell als Lehrling annehmen und ausbilden durfte, hatte sie ihm das eine oder andere von ihrer Kunst gezeigt, wobei er sich stets als sehr geschickt erwies.
    »Was ist los, Christos? Warum rufst du mich, als wäre unsere Wasserzuleitung versiegt?«
    Er stand zusammen mit mehreren Tagelöhnern an einem großen Bottich. Alle Anwesenden hielten hölzerne Stampfer in den Händen. Christos griff jetzt in den Lumpenbrei hinein. Er suchte offenbar nach etwas. Wenig später holte er ein langes, faseriges Stück heraus, bei dem nicht gleich zu erkennen war, worum es sich handelte. Aber der Blinde hatte bereits ein paar weitere solcher Faserstücke aus dem Brei gefischt und nebeneinander auf dem Steinboden ausgelegt. »Evangelia, seht Euch nur an, was hier drin zu finden ist!«, rief er auf seine etwas zur Theatralik neigende Art. Dass ausgerechnet ein Blinder jemanden zum Sehen aufforderte, gab der ganzen Angelegenheit eine unfreiwillig komische Note.
    »Das sieht aus wie die Reste eines Seils!«, meinte Li.
    »Und genau das ist es wahrscheinlich gewesen! Ein Hanfseil, das eine Hose an ihrem Ort gehalten hat und noch in ihren Schlaufen steckte oder in den Kragen eines Umhangs eingenäht war! So etwas muss man doch entfernen! Man kann doch nicht einfach einen Haufen Lumpen blind zerstampfen, ohne sich vorher zu vergewissern, dass an ihnen nichts mehr ist, was da nicht hingehört …« Er deutete auf die anderen Tagelöhner, von denen sich keiner einer Schuld bewusst zu sein schien. »Evangelia, lasst doch mich in Zukunft alle Lumpen kontrollieren, bevor sie in den Stampfbottich kommen, damit so etwas nicht wieder vorkommt!«
    »Gut«, gab Li nach, die schon des Öfteren in ähnlicher Weise vom blinden Christos bedrängt worden war, ihm die Endkontrolle der Lumpen zu überlassen.
    »Herrin, das ist nicht Euer Ernst!«, entfuhr es nun einem der anderen Tagelöhner. »Wollt Ihr über uns spotten, dass Ihr einen Blinden die Lumpen überprüfen lasst?«
    »Seine Augen sind nicht die besten, aber seine Sorgfalt ist am größten«, erklärte Li ruhig. Sie dachte an die Worte des Weisen Lao-she, die ihr Vater oft auf den Lippen geführt hatte, wonach man eine Schwäche, die nicht zu beseitigen war, nach Möglichkeit in eine Stärke umwandeln sollte. Christos erschien ihr manchmal wie ein praktisches Beispiel dieses Lehrsatzes uralter Weisheit.
    Der blinde

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