Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
»Was meinst du damit?«, fragte Ahmed zurück. »Na ja, meine Eltern waren zusammen im Leistungskurs und meine Mutter fand meinen Vater erst blöd, aber dann waren sie auf einer Party …« Ahmed unterbrach mich: »Ey, ich habe keine Ahnung, was meine Eltern gemacht haben und es ist mir egal.« Ahmeds Mutter war die Einzige in der Familie Ertüklü, die meine merkwürdigen Fragen mochte. »Du bist ein anderer Junge«, sagte sie. Einmal stand ich neben ihr in der Küche, nahm all meinen Mut zusammen und fragte: »Wo haben Sie Ihren Mann kennen gelernt?« »Zuhause, als Kind«, sagte sie, »mein Vater kannte seinen Vater, wir haben geheiratet, ganz einfach.« Es klang wirklich einfacher als die Geschichte meiner Eltern. Meine Eltern haben beide studiert und nie geheiratet. Ahmed hatte vier Geschwister. Ich bin Einzelkind. Ahmed redete viel vom Willen Allahs. Ich wurde nicht mal getauft. Unser Wohnzimmer stand voller Bücher. Das Wohnzimmer der Ertüklüs stand voller VHS-Kassetten. Dort lief der Fernseher den ganzen Tag und Ahmed konnte in der großen Pause von weltbewegenden Fernsehereignissen wie der »Mini Playback Show« berichten. Ich war froh, als wir endlich überhaupt einen Fernseher besaßen und ich die »Sendung mit der Maus« sehen durfte. In den Sommerferien flog Ahmed mit seiner Familie in die anatolische Heimat. An Weihnachten fuhr ich mit meinen Eltern in die schwäbische Provinz.
Wären wir nicht in eine Klasse gekommen, hätte ich Ahmed nie kennen gelernt.
Heute würden Ahmed und ich wohl nicht gemeinsam eine Schule besuchen, selbst wenn wir in einer Straße leben würden. Der Tag unserer Einschulung liegt über zwanzig Jahre zurück. Die Menschen in den gebleichten Jeans gehören längst zu diesem Land, aber man kann nicht behaupten, dass das Zusammenleben von Türken und Deutschen, von Deutschen und Deutschen, deren Familien aus der Türkei oder anderen Ländern stammen, sich verbessert hätte. In der Zwischenzeit wurden ausländerfeindliche Brandanschläge verübt, es wurden Lichterketten gebildet und es wurde Wahlkampf geführt mit der Hetze gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Mal wurde verkündet, das Boot sei voll. Mal wurde gewarnt, es fehle an Fachkräften aus dem Ausland. Und kurz nachdem die deutsche Fußballnationalmannschaft mit 23 Spielern, von denen elf einen »Migrationshintergrund« haben, im Sommer 2010 bei der Weltmeisterschaft in Südafrika die Beobachter aus aller Welt mit schnellem Kombinationsspiel begeistert und den dritten Platz erreicht hatte, wurde ein Buch veröffentlicht, in dem ein Volkswirt behauptet, Deutschland schaffe sich ab, und Schuld daran sei eine fatale Kombination aus Geburtenrückgang, wachsender Unterschicht und vor allem massiver Zuwanderung aus muslimischen Ländern. Thilo Sarrazins Machwerk – voll dröger Zahlenorgien und schwer lesbarer Rechtfertigungen – wurde zu einem historischen Bestseller. Nicht nur das: Sarrazin, dieser bei öffentlichen Auftritten so störrisch anmutende Aktenmensch, wurde mit Unterstützung der Bild-Zeitung für einige Monate zu einem Volkshelden. Obwohl dieser Mann, den die SPD niemals loswerden wird, nur gängige Ressentiments zusammengefasst und mit diversen Studien zu belegen versucht hatte. Oder: gerade deshalb.
Das Widerwärtige an »Deutschland schafft sich ab« waren nicht mal die wirren, rassistischen Unterstellungen, sondern das von Verwertbarkeit und Elitedenken durchsetzte Bild, das Thilo Sarrazin von den Menschen hat. Aber das Gros der Käufer, die bestimmt nicht alle Leser waren, freute sich wohl darüber, dass »die Ausländer« endlich einmal hart angepackt wurden, lange genug habe die deutsche Gesellschaft aus »falscher politischer Korrektheit« »Parallelgesellschaften« und »Sozialschmarotzer« geduldet. »E ndlich sagt mal einer die Wahrheit!«, hieß es in einem sehr repräsentativen Leserbrief. Dabei war all das, worüber nun nach Sarrazin in den Talkrunden zur »Integration« debattiert wurde, nicht neu. Gesagt wurde auch vor Sarrazin viel. Nur getan wurde wenig an den sozialen Brennpunkten des Landes. An Brennpunkten, wie es sie vor allem in Kreuzberg und Neukölln gibt. Dort, wo tatsächlich die Mehrheit der Menschen einen »Migrationshintergrund« hat – und wenig Bezug zu dem Land, in dem sie leben. Wenn ich an meine Grundschulzeit zurückdenke, denke ich an eine friedliche Koexistenz. Doch die friedlichen Zeiten, wenn es sie denn je gab, sind vorbei.
Wirklich bewusst wurde mir das im
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