Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
die mir unbekannt waren.
Die Welt, auf die er gekommen ist, erscheint mir noch brutaler als zuvor. Ich meine nicht nur die großen Nöte; Hunger, Umweltzerstörung, Atomkraft, Euro-Krise, Libyen-Krieg. Ich meine auch das kleine Elend. Plötzlich fällt mir auf, wie unerträglich laut die Autos an der Kreuzung vor unserem Balkon beschleunigen. Ich sehe Hundehaufen auf dem Gehweg, die ich vorher blind umsteuert habe, und rege mich stundenlang über Nachbarn auf, die ihren Sperrmüll an den nächsten Baum lehnen. Die meisten Menschen, die mir auf der Straße begegnen, kommen mir kaputt vor und laut und unberechenbar. Die Alkoholiker auf ihren Plastikstühlen vor der Eckkneipe, die ich früher als die letzten Relikte des alten Neuköllns belächelte, bringen mich jetzt mit ihrem Gejohle dazu, nachts die Polizei zu rufen. Die Dealer und Junkies in der U-Bahn lassen mich immer häufiger das Auto nehmen. Zuhause herrscht eine zarte Familienidylle, ich sehne mich auch vor der Haustür nach mehr Harmonie. Die besondere Mischung aus coolen Läden und türkischen Spielhallen, aus Studenten und Kreativen, Arbeitslosen und Kleinkriminellen, für die ich den Teil von Neukölln, in dem wir leben, geschätzt und verteidigt habe, erscheint mir nun manchmal wie ein schwer erträgliches, menschenfeindliches Chaos.
Natürlich will ich, dass mein Sohn, wenn er laufen kann, zum Spielen alleine auf die Straße gehen kann, in der er wohnt. Natürlich schätze ich jetzt kinderfreundliche Cafés und saubere Spielplätze, Zebrastreifen und gut sortierte Supermärkte. Ich denke, das sind die normalen Bedürfnisse junger Eltern, die den Anspruch haben, ihrem Kind einen halbwegs angenehmen Alltag zu bieten. Zu einem egozentrischen Spießer bin ich deshalb noch nicht mutiert und selbst wenn ich mir ein Carloft leisten könnte, würde ich nicht mal darüber nachdenken. Ich bin weiterhin irritiert, wenn ich von Bekannten höre, Menschen aus Medien und Wirtschaft, die sich verschulden, nur damit ihre Kinder Privatschulen besuchen und ihre Kleinfamilien in so genannten Townhouses wohnen können, in Apartments, die von Zäunen und Portiers vom schmutzigen Rest der Stadt getrennt sind. Aber auf Dauer brauchen wir ein Zimmer mehr und ich gebe zu, dass ich mir schon Wohnungsangebote angesehen habe, die den Portfolios des »Quartier 73« in Ahmeds altem Haus, das mir zu Beginn dieser Spurensuche der Makler mit der Wellenfrisur vorgestellt hat, ähneln. Ich finde die Mietsteigerungen und die Immobilienspekulation im Gebiet um die Blücher-Grundschule und die damit verbundene Verdrängung aus dem Bezirk nach wie vor skandalös, aber ich bin bis zu einer gewissen Schmerzgrenze bereit, dafür zu zahlen, dass im Hof ein Sandkasten steht, die anderen Mieter sich nicht in den Kinderwagen übergeben und dass in der Küche nicht ständig die Sicherungen rausfliegen. Nicht, dass mir meine Umgebung in meinem kinderlosen Leben völlig egal gewesen wäre, nein, ich habe einfach über vieles hinweggesehen, das mir plötzlich nahe geht.
Die Sehnsucht nach Ruhe ist das eine. Was ich seit der Geburt meines Sohnes dagegen nicht verspüre, ist: Angst. Ich mache mir Sorgen, wenn er schreit, hustet oder an die Bettkante robbt, aber ich habe keine Angst vor seiner Zukunft. Er wächst nicht mit reichen Eltern auf. Aber es wird genug da sein. Er wird falsche Entscheidungen treffen, aber seine Fehler werden ihm verziehen werden. Er hat eine Familie, die ihn über alles liebt. Mit ein bisschen Glück wird es ihm gutgehen. Um mich herum, in diesem ungewohnten Elternumfeld, spüre ich jedoch Angst. Im Geburtsvorbereitungskurs prahlen werdende Eltern damit, dass sie ihr ungeborenes Kind schon auf zehn Wartelisten von privaten Kindergärten eingetragen haben. Damit es in drei Jahren auf keinen Fall eine staatliche Einrichtung besuchen muss. Nach dem Babyschwimmen unterhalten sich zwei Väter über die Qualität der Grundschulen in ihrer Gegend und geben sich gegenseitig Tipps, wie man sein Kind an die Wunschschule tricksen kann. Es ist dieselbe Angst, die schon mein Münchner Bekannter hatte, der aus dem schönen Neuhausen-Nymphenburg floh, als seine Tochter eingeschult werden sollte; die Angst davor, dass das eigene Kind in einer Gesellschaft, die immer mehr Verlierer hervorbringt, nicht zu den Gewinnern gehört. Dass es nicht vorankommt, wenn es mit Langsameren in eine Klasse kommt. Es ist eine Angst, gegen die ich mich wehre, weil ich eine andere Vorstellung vom Zusammenleben
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