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Die Patchwork-Luege

Titel: Die Patchwork-Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Muehl
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Beschleunigungsschleife, die uns glauben macht, pro Zeiteinheit mehr erleben und erreichen zu müssen, um unserBewusstsein zufriedenzustellen und ein Gefühl der Fülle, des Reichtums zu empfinden, wegen dem wir uns auf der Welt wähnen. Wie wir unsere Effektivität steigern, bringen uns Zeitmanagementkurse bei, in denen wir lernen, »wichtige und dringende« Aufgaben von »nur wichtigen«, »nur dringenden« und »weder wichtigen noch dringenden« zu unterscheiden. Die Möglichkeitswelt macht eine Entscheidungsfindung schwierig. Die Frage, welcher Rotwein sich am besten zu Lamm eignet, welcher Blazer schön ist oder in welches Gutshaus man reisen sollte, stellt noch kein existentielles Problem dar. Komplizierter wird die Sache, wenn es um den Menschen an seiner Seite geht, den Beruf, die Heimat. Darüber kann man verrückt werden.
    Barry Schwartz’ Anleitung zur Unzufriedenheit. Warum weniger glücklich macht war auch in Deutschland ein Bestseller.
    Er unterscheidet in seinem Buch zwischen »Maximizern« und »Satisficern«: Der »Maximizer«versucht die bestmögliche Entscheidung zu treffen und denkt fortwährend darüber nach, ob es nicht noch was Besseres gibt, wenn er nur weiter suchte – und tut es schließlich. Der »Satisficer« trifft eine Entscheidung, die gut genug ist, mit der er zufrieden leben kann, und zerbricht sich nicht weiter darüber den Kopf.
    Er sei der Glücklichere von beiden, schreibt Schwartz. Das glauben wir ihm nicht, denn es widerspricht der Idee unserer Zeit, nach der das Eigentliche erst noch kommt. Aber das ist ein Trugschluss, es verhält sich genau umgekehrt.»Es wird keine bessere Zeit kommen, sie ist immer schon da, sie kann nur ein Leben lang versäumt und unentdeckt bleiben«, notierte Botho Strauß.
    Wir treiben uns selbst vor uns her. Dafür gibt es ein Wort: Ich-Jagd. Der Soziologe Peter Gross gab seinem 1999 erschienenen Buch diesen Titel.
    Seit das Schicksal offenbar nur noch Sache der griechischen Mythologie ist, verflüchtigt sich auch das Ich. Der moderne Mensch hat den Glauben an das Jenseits verloren und ist vom Diesseits besessen, ein unglückliches Ich ist da unerträglich; denn dass sich leicht in ein neues Ich schlüpfen lässt, hat uns spätestens die moderne Welt des Cyberspace gelehrt. Diese Welt »bildet in den ›MultiUserDungeons‹ (MUDs) soziale Laboratorien zur spielerischen Erzeugung von Identitäten oder Ichs aus, wie sie früher die philosophischen Experten in ihren Gedankendungeons und in den philosophischen Schriften erzeugten«, schreibt Gross. Die Internetplattformen Facebook, Myspace, StayFriends oder studiVZ eignen sich ausgezeichnet, die eigene Person durch Ausschmücken und Ausklammern von Details als Kunstfigur zu inszenieren. Ich bin nicht einer, ich bin viele. Wer ich heute bin, wer morgen, ist eine Frage meiner Laune. Unser Ich spaltet sich auf, es »transformiert sich in vielerlei Gestalten, es tummelt sich in körperlichen, geistigen, sozialen und virtuellen Realitäten, es heftet sich an das andere Geschlecht, an Idole, schlüpft in Kostüme und Götter«.
    Auf die eine Ich-Variante folgt die nächste, und während unser wahres Ich verschüttet unter den vielen Ich-Optionenliegt, reiben wir uns verwundert die Augen, weil wir es nicht mehr finden.
    Das ist eine moderne Grunderfahrung. Hartmut Rosa zitiert in seinem Buch Beschleunigung Rousseaus Briefroman Julie oder die neue Héloïse aus dem Jahr 1761. Darin reist der Protagonist Saint-Preux nach Paris, eine Stadt, die seine Sinne, die ihn mit voller Wucht erfasst. Er spürt die »Trunkenheit (…) in die dieses geräuschvolle, unruhige Leben diejenigen, die es führen, versetzt; ich verfalle in eine Betäubung, die dem Zustand eines Menschen gleicht, vor dessen Augen schnell hintereinander eine Menge von Gegenständen vorübereilt. Nichts von dem, was meinem Blick auffällt, dringt bis ans Herz; alles zusammen aber beunruhigt dessen Regungen und gebietet ihnen Stillstand, so dass ich für einige Augenblicke vergesse, wer ich bin und wem ich angehöre. Ich treibe von einer Laune zur andern, und (…) ich kann keinen Tag sicher wissen, was ich am folgenden lieben werde.«
    In diesen Sätzen schwingt das Gefühl tiefer Verlorenheit genauso mit wie das nie geahnter Freiheit. Die eigene Geschichte löst sich auf, es existiert kein Vorher und kein Nachher mehr, nur das Jetzt, ein leichtes, schwebendes Jetzt. Dieser Identitätszustand ist verwirrend, er zieht uns an und schreckt uns ab – und

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