Die Patchwork-Luege
er ist uns bekannt. Aber die spätmoderne Krise des Ich ist eine andere als die der klassischen Moderne.
Das moderne Individuum definierte sich in bewusster Reflexion auf sich selbst. Es gibt, nach Descartes, ein fundamentum inconcussum , eine feste, unzerstörbare Basis desWissens, dass man ›ist‹ und wodurch man ist. Das Individuum ist das Unteilbare, etwas Festes, das den Augenblick überdauert. Madame de Staël hat allerdings schon im 18. Jahrhundert behauptet, dass das Ich nicht existiere, und Rimbaud schrieb 1871: »Ich ist ein anderer.« Von Foucault stammt der berühmte Satz: »Der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.«
Als 1973 das Buch Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit von Konrad Lorenz erschien, konnte niemand ahnen, mit welch mulmigem Gefühl wir es beinahe vierzig Jahre später lesen würden.
Lorenz reiht Kapitel für Kapitel Negativutopien aneinander. Eine davon ist der »Wärmetod des Gefühls«. Der moderne Mensch, schreibt Lorenz, habe durch die fortschreitende Beherrschung seiner Umwelt die Marktlage seiner Lust-Unlust-Ökonomie in Richtung einer ständig zunehmenden Sensitivierung gegenüber allen Unlust auslösenden Reizsituationen und einer ebensolchen Abstumpfung gegen alle Lust auslösenden verschoben.
Er ist nicht bereit, sein Komfortlevel aufzugeben und zu leiden, er will die Sofortbefriedigung. Im Gegenzug opfert er ihr eine elementare Fähigkeit: »saure Arbeit in solche Unternehmen zu investieren, die erst in der späteren Folge einen Lustgewinn versprechen«. Was uns nicht sofort elektrisiert, elektrisiert uns nie. Dieser Grundsatz trifft unsere Sexualität besonders hart, weil »alle feiner differenzierten Verhaltensweisen der Werbung und der Paarbildung, sowohl die instinktmäßigen wie die kulturell programmierten«, schwinden. So verwandele die Unlust-Intoleranzdie Höhen und Tiefen des Lebens in eine planierte Ebene, aus den großartigen Wellenbergen und -tälern mache sie eine leichte Vibration, aus Licht und Schatten Grau. Konrad Lorenz nennt das die »tödliche Langeweile«. Er hat recht behalten.
Dieses Verhalten ist natürlich kindisch. In schöner Regelmäßigkeit sitzen Kulturkritiker auf Talkshow-Sofas und warnen vor einem sich ausbreitenden Infantilismus. Vor ein paar Jahren forderte der Bund Deutscher Psychologen: »Werdet endlich erwachsen.« Das ist, als würde man einen Porschefahrer bitten, auf der Autobahn achtzig zu fahren.
Der Jugendwahn ist ein altes Phänomen. Auch frühere Generationen versuchten, von ihrer Jugendlichkeit zu retten, was zu retten war. In seiner »Rede über das Alter«, die Jacob Grimm 1860 in Berlin hielt, sagte er: »Denn zu allen Zeiten haben die Menschen das nahende Alter übel empfangen, gehasst, gescholten und verflucht oder sind doch in Wehklage darüber ausgebrochen. (…) Der Greis sollte von Dank erfüllt fühlen, daß ihm zur letzten Lebensstufe vorzuschreiten vergönnt war, er hat nicht nötig, zu jammern.«
Über den Verfall unseres Körpers, in den sich die Spuren der Jahre unerbittlich eingraben, jammern wir nicht erst bei Erreichen des Greisenalters. Wir wollen in jeder Phase über unsere Leistungsfähigkeit bestimmen können und attraktiv bleiben, begehrenswert. Die Menschen vor uns hinderte das nicht daran, in Würde zu reifen, sie wussten um die Bedeutung des Wortes unwiederbringlich.Infantiles Benehmen schloss das von vornherein aus.
Heute ist uns die Vorstellung davon, was Erwachsensein heißt, abhandengekommen.
Erwachsensein bedeutet, Entscheidungen zu treffen. Indem wir uns auf eine Option festlegen, schließen wir andere Optionen aus. Wir verzichten auf etwas und übernehmen für etwas Verantwortung, für einen Menschen zum Beispiel oder eine Familie.
Erwachsensein bedeutet, die banale Tatsache zu akzeptieren, dass sich nicht jeder Wunsch verwirklichen lässt und Lebensabschnitte einander abwechseln. Erwachsensein kann ein beruhigendes Gefühl vermitteln. Die Möglichkeitswelt ist kleiner geworden, sie erfordert keine permanente Revision, weil man nicht fürchtet, Erlebnisse, Menschen oder irgendetwas sonst zu verpassen. Man ist angekommen.
Von dieser Ausgeglichenheit träumte man als Teenager in unglücklichen Stunden, davon, endlich nicht mehr auf dem Sprung zu sein und von einem Lebensentwurf zum nächsten hasten zu müssen. Erwachsensein assoziierte man mit Gelassenheit.
Diese Gedanken sind uns seltsam fremd geworden. Das Erwachsenwerden versetzt uns in panische Angst;
Weitere Kostenlose Bücher