Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
gewesen, und erst kürzlich war sie Zeugin jener Macht geworden, die den Quell seines Ruhmes in ganz Annar darstellte. Einmal hatte er ihr einen Lidschlag lang gestattet, in seinen Geist einzutauchen, seine verborgenen Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten zu fühlen, als steckte sie in seiner Haut. Maerad hatte dies als schwer zu ertragen empfunden, und selbstjenes für ihn so schwierige Zugeständnis hatte nur einen kleinen Teil seiner Selbst offenbart.
Cadvan war einer der verschlossensten Menschen, denen sie je begegnet war: Etwas ihn ihm scheute vor menschlichem Umgang zurück. In Thorold hatte er entspannter gewirkt, als sie ihn je zuvor gekannt hatte, dennoch hatte sie selbst dort sein ständiges Einzelgängertum gespürt. Trotzdem schien er zu tief verwurzelten Freundschaften fähig zu sein und wurde von denen, die sich mit ihm anfreundeten, innig und treu geliebt. Dabei war er beileibe kein einfacher Mensch. Maerad fiel ein, was Nelac über ihn gesagt hatte: Wenn er versucht, etwas zu verbergen, ist es nahezu unmöglich festzustellen. Sie dachte an den Augenblick auf dem Boot, in dem er sie so beunruhigend angesehen hatte. Ohne eigenes Zutun zuckte sie vor der Erinnerung zurück und rief sich verwirrt Gahals Warnung ins Gedächtnis: Hüte dich vor dir selbst. In ihr steckte etwas, dem Gahal misstraute. Das bereitete ihr Unbehagen, zumal ihr bewusst war, dass ihr Wissen um sich selbst ungewiss war. Unwillkürlich spähte sie zu Cadvans dunklem Profil hinüber. Er schien tief in Gedanken versunken zu sein, während er neben ihr ritt.
All das war zu vielschichtig, um es zu entwirren, und zu beunruhigend. Um sich davon abzulenken, beschloss sie, im Geiste die Alphabete und Runen durchzugehen, die sie in den vergangenen Wochen gelernt hatte. Das vertrieb ihr die Zeit, und der leise Takt der über das Laub kanternden Pferde verschmolz mit jenem der Buchstaben: Onna, Inla, Tref, Chan, Edlan, Cuif, Va, A, Ricla, Pa, Dha…
Es folgten Tage beschwerlicher Ritte durch die Wälder und das Ackerland von Ileadh. Zu ihrer Linken ragten die Hochmoore von Ileadh über das Waldland auf, zu ihrer Rechten erstreckte sich eine weitläufige Ebene, das fruchtbare Hügelland von Osirian, gesprenkelt mit grasenden Rindern und Schafen, durchzogen von zahlreichen kleinen Bächen. Das Wetter blieb klar, doch jede Nacht schlich sich ein Frost in die Luft, der ihnen verriet, dass der Sommer vorüber war. Um den Mond, der zu einem abgeschnittenen Fingernagel geschwunden war, glühte ein bläulicher Schimmer, und die Sterne funkelten frostklirrend an einem kalten Himmel.
Als sie sich Gant näherten, tarnten sie sich und die Pferde mit einem Trugbann, der selbst Bardenaugen zu täuschen vermochte. Sie hatten sich für eine Verkleidung als Boten entschieden, da dies sowohl ihre Eile als auch den Umstand erklären würde, dass sie Fremde waren. Darsor und Imi verwandelten sich in zwei stramme Braune, geritten von zwei jungen, moosgrün gekleideten Männern mit einer roten Botenfeder an den Mänteln.
Der Bann war eine Besonderheit Cadvans, und Maerad stellte zu ihrem Verdruss fest, dass sie es als nahezu unmöglich empfand, ihn nachzuahmen. Es bedurfte vierer Versuche, ehe ihr die eigene Verwandlung gelang, und letzten Endes musste Cadvan ihr bei Imi helfen, was beträchtlich an Maerads Stolz kratzte. Obendrein erwies es sich als ermüdend, und sie konnte ein leichtes Schwindelgefühl dabei nicht unterdrücken.
Bei Gant gelangten sie auf die Bardenstraße. Auf dem sauber angelegten Pfad kamen sie schneller voran. Bis Carfedis, der Schwesternschule von Gant an der Grenze zwischen Ileadh und Annar, lagen einhundertachtzig Meilen vor ihnen, danach führten weitere zweihundertvierzig Meilen entlang der Bardenstraße nach Edinur, wo sie sich nach Norden wenden und den Aldern überqueren würden. Die Nordstraße verlief zwischen der Valverras-Öde im Osten und den Marschen von Caln, einem Gewirr aus Sümpfen, auf der anderen Seite. Nach Cadvans Einschätzung sollten sie Edinur in zehn Tagen erreichen. In Carfedis trafen sie am vierten Tage ein. Sie betraten die Schule und überreichten Melchis, dem Obersten Barden, einen Brief von Gahal. Maerad war zu erschöpft, um mehr wahrzunehmen als einen verschwommenen Eindruck von mit bunten Bildern bemalten Wänden und einem Teich mit Steingesims vor dem Bardenhaus, in dem zahlreiche weiße Schwäne wie Geister in der Düsternis schwammen. Eine wundervolle Nacht lang aßen sie gut, badeten und
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