Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
Bisher war es immer Cadvan gewesen, der die Entscheidungen getroffen und den Weg vorgegeben hatte. Dies ließ sie abermals spüren, wie sehr sie sich in den vergangenen Monaten verändert hatte. Und vermutlich hatte sich auch Cadvan verändert. Er war bereit, sie vorbehaltlos bei einem gefährlichen Unterfangen zu begleiten, das die meisten Menschen als wahnsinnig und zum Scheitern verurteilt abgetan hätten.
»Ich denke, wir müssen nach Süden«, meinte Maerad stirnrunzelnd und grübelte über ihr mangelndes Wissen über Annar nach. Alles, was sie wusste, war, dass Suderain südlich von Annar lag und sich Turbansk in Suderain befand - befunden hatte. Und dass Hem, wenn sie Glück hätten, nach Norden reisen würde. Sofern er überlebt hatte. »Ich meine, Hem würde wahrscheinlich nach Norden kommen vielleicht.«
»Mag sein, aber was fühlst du}« Cadvan starrte sie eindringlich an. »Maerad, ich vertraue darauf, dass du recht hast, dass dein Weistum dich nicht trügt. Ich erinnere mich noch daran, wie wir Hem gefunden haben - auch damals hat dein Gefühl dich geleitet, entgegen meinem Urteil.« Unbewusst rieb sich Cadvan über die Narbe auf seiner Wange; die Begegnung mit Hem hatte zu dem Kampf mit den Untoten geführt, bei dem den sein Gesicht verunstaltet und er beinahe getötet worden war. »Vielleicht können wir dieses Gespür verwenden, um uns führen zu lassen. Aber du musst dir sicher sein. Du darfst nicht gestatten, dass deine Hoffnung das Weistum trübt.« Maerad überlegte eine Weile, bevor sie antwortete, und suchte in sich nach ihren wahrsten Gefühlen. Sie wusste genau, was Cadvan meinte. In Gilmans Feste, wo sie eine Sklavin gewesen war, hatte es ein Sprichwort gegeben: »Hoffnung erstrahlt in den Sterbenden.« Je verzweifelter man war, dachte sie, desto größer wurde die Gefahr, sich von Hoffnung in die Irre leiten zu lassen.
Sie vermisste Hem mit jeder Faser ihres Körpers. Er verkörperte die einzige Familie, die sie noch hatte. Ihre Mutter und ihr Vater waren tot, gemeuchelt von der Finsternis. Das schmale, schelmische Antlitz ihres Bruders tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Mit einem Stich im Herzen wurde ihr klar, dass er mittlerweile wahrscheinlich anders aussah. Als sie zuletzt mit ihm zusammen gewesen war, hatte sie ihn trotz seiner Zähigkeit vorwiegend als kleinen Jungen betrachtet. Aber in seinem Alter, im schwierigen Übergang vom Kind zum Mann, veränderten Jungen sich so schnell…
Seufzend versuchte sie, ihre Gedanken zu bündeln. Genauer gesagt, versuchte sie, überhaupt nicht zu denken, damit das, was sich in ihrem Geist verbarg, aufsteigen und sich zu Wort melden konnte. Voll entspannter Aufmerksamkeit wartete sie auf etwas, dass sich ihr offenbaren würde.
»Ich denke, wir müssen nach Süden«, sagte sie schließlich. »Ich spüre eine Art Ziehen in diese Richtung. Sonst weiß ich nichts.«
»Dann also Süden«, willigte Cadvan ein. »Sobald wir können. Aber vorerst würde ich mich nur allzu gern ein Weilchen in Inneil ausruhen. Es war ein schwieriger Winter, und ich bezweifle, dass der Frühling einfacher wird.«
Maerad verspürte gewaltige Erleichterung, als hätte sie gerade eine Probe bestanden, von der sie nicht einmal geahnt hatte. Cadvans stillschweigendes Vertrauen bewegte sie zutiefst; sie selbst zweifelte so heftig an sich. Eine plötzliche Woge zärtlicher Gefühle schwappte über ihr zusammen, und beinah hätte sie die Hand ausgestreckt, um ihm die Haarlocke aus der Stirn zu wischen, als er sich über den Tisch auf sie zubeugte; doch sie hielt sich zurück und blickte wieder auf den Tisch hinab. Eine zarte Röte stieg ihr in die Wangen. Cadvan und sie waren viele Monate lang enge Gefährten gewesen, allerdings blockierten etliche unausgesprochene Hürden ihre Vertrautheit.
»Ich brauche ein neues Schwert«, sagte sie, um auf etwas anderes zu sprechen zu kommen. »Arkan hat mir Irigan entwendet, als er mich gefangen nahm.« »Und ein Pferd. Es sei denn, du willst als Wölfin nach Süden laufen«, fügte Cadvan hinzu.
»Ich finde, in letzter Zeit war ich zu viel Wölfin.« Maerad liebte die Kraft, die mit ihrer Wolfsgestalt einherging, das Gefühl von Freiheit, die lebendige, aufregende Welt der Gerüche, Geschmäcker und Instinkte, aber noch bevor Cadvan seinerzeit darauf zu sprechen gekommen war, hatte sie selbst insgeheim zu befürchten begonnen, sie könnte vergessen, wie sie sich in sich selbst zurückverwandeln konnte.
»Tja, dann können wir das
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