Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
Cadvan mit sanfter Stimme. »Wenn jemand für Hems Sicherheit sorgen konnte, dann Saliman.«
»Ja«, erwiderte Maerad erstickt. »Aber wir wissen auch nicht, ob Saliman noch am Leben ist. Oder?«
Ein langes Schweigen setzte ein. Malgorn, der Maerad mitfühlend musterte, füllte die Gläser aller auf. Plötzlich empfand es Maerad als seltsam, über Krieg und Tod zu reden, während sie in einem so gemütlichen und wunderschönen Zimmer aus erlesenen Gläsern tranken. Nichts schien ihr richtig wirklich zu sein. Letztlich brach sie das Schweigen. »Ich denke, ich wüsste es, wenn Hem tot wäre«, sagte sie. »Es ist, als wäre da … eine Art Faden, der mich mit ihm verbindet. Ich glaube nicht, dass ich mir das einbilde.«
»Manchmal«, meinte Silvia ernst, »gibt es so etwas zwischen Menschen. Ich zweifle nicht an deinen Worten, Maerad.«
Maerad schaute in Silvias sanfte, dunkle Augen auf. Rasch wandte sie den Blick ab, weil das Mitgefühl, das sie darin las, sie endgültig zum Weinen bringen würde, und das wollte sie nicht -nicht hier unter Leuten, die genauso schlimm gelitten hatten. »Wenn Hem noch lebt«, sagte sie, »dann gilt das für andere ebenso. Auch für Saliman.«
»Ich hoffe, du hast recht«, meinte Malgorn.
»Ich muss ihn finden.« Maerad fühlte sich bereits leicht schwindelig, dennoch leerte sie ihr Glas. »Und zwar bald.«
Malgorn lächelte beinah. »Du willst in ganz Annar und in Suderain nach deinem Bruder suchen?«
»Das ist ein Weistum, das ich habe.« Inbrünstig starrte sie Malgorn an. »Ich weiß, dass es wichtig ist. Nicht nur, weil ich ihn bei mir haben möchte und ihn liebe; natürlich will ich ihn auch deshalb finden, aber es ist noch wichtiger als das. Warum, weiß ich allerdings nicht.«
In Maerads Stimme schwangen solche Leidenschaft und Überzeugung mit, dass alle im Raum ihr glaubten. Malgorn nickte ernst. »Nun, dann musst du ihn suchen«, meinte er mit einer besonderen Sanftmut in der Stimme, die sie zuvor nicht vernommen hatte. »Aber ich denke, zuerst musst du schlafen.« Maerad erwachte spät an einem weiteren klaren Wintertag. Die blasse Sonne schien durch die Fensterlaibung herein. Müßig und noch im Halbschlaf lauschte sie den Geräuschen der Schule, wie sie es vor fast einem Jahr getan hatte: Musikinstrumente wurden gestimmt; ein Hund bellte; Tauben gurrten vor ihrem Fenster. In ihrem Zimmer war es warm, weshalb es keiner Strafe gleichkam, aus dem behaglichen Bett zu schlüpfen, sich zu waschen und sich anzukleiden. Sie ging nach unten, um nachzusehen, was es zum Frühstück gab. Auf dem Flur begegnete sie Cadvan, der dasselbe Ziel hatte.
»Wir sind ein wenig spät dran«, sagte er, »aber ich bin sicher, es gibt noch etwas. Ich bin am Verhungern!«
»Etwas« erwies sich als Fleischpasteten, die der Koch des Bardenhauses für sie aufwärmte, dazu frisches Roggenbrot, weißer Käse und Obst. Sie nahmen ihre Beute in das kleine Esszimmer mit, in dem sie am Vorabend gespeist hatten, machten sich genüsslich darüber her und besprachen dabei ihre Pläne für den Tag. Maerad wollte im Sonnenschein umherwandern, ihre Lieblingsorte in Inneil besuchen und vielleicht Schwertmeister Indik und einige andere begrüßen, die sie bei ihrem letzten Aufenthalt kennen gelernt hatte. Cadvan, der mit gerunzelter Stirn dasaß, plante bereits weiter voraus.
»Was sollen wir tun, Maerad?«, fragte er und schob seinen Teller mit einem zufriedenen Seufzen von sich. »Ich glaube dir aufs Wort, wenn du sagst, wir müssen Hem finden. Aber wie stellen wir es an? Er könnte sich überall und nirgends aufhalten. Und wie Malgorn gestern Abend sagte, ist Reisen gefährlich geworden.
Annar befindet sich bereits im Krieg. Es wäre gut, zumindest eine Vorstellung davon zu haben, wo wir anfangen sollen.«
Maerad musterte Cadvan mit ernster Miene. Im Gegensatz zu Silvia und Malgorn hatte er sich seit ihrer ersten Begegnung kaum verändert, abgesehen von einer dünnen, weißen Narbe, die sich um seinen Wangenknochen und das linke Auge wand, das Mal des Peitschenhiebs eines Untoten. Cadvan hatte schon immer eine gewisse Grimmigkeit angehaftet. Vielleicht, fand Maerad, wirkte er mittlerweile noch etwas mehr von Sorgen gezeichnet, doch sie hatte oft das Gefühl, seine Grimmigkeit war nur ein Schleier, unter dem sich ein strahlender Quell von Freude verbarg. Der Gedanke erfüllte sie mit einer merkwürdigen Scheu. Dies war das erste Mal, dass er sie gefragt hatte, was sie als Nächstes tun sollten.
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