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Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied

Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied

Titel: Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Croggon
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Maerad sah ihm in die Augen, als wäre sein Anblick eine Spiere, an die sie sich in stürmischer See klammerte, um sich vor dem Ertrinken zu retten.
    »Also«, sagte er. »Was ist geschehen?«
    »Ich bin einfach gefallen«, wiederholte Maerad.
    »Während eines ganzen Jahres, das ich mit dir zusammen geritten bin, habe ich kein einziges Mal erlebt, dass du einfach so vom Pferd gefallen bist«, erwiderte er mit sanftem Argwohn. »Was ist los, Maerad?«
    Einen Lidschlag lang erstarrte sein Herz, als Maerad geradewegs durch ihn hindurchzublicken schien, als wäre er nicht da. Ihr Gesicht war so bleich, dass die Haut durchscheinend wirkte; Cadvan vermeinte tatsächlich, die feine Rundung ihres Schädels zu erkennen. Dann heftete sich ihre Aufmerksamkeit auf sein Antlitz, und sie blinzelte.
    »Ich kann nichts sehen«, antwortete sie schließlich. »Ich meine, ich sehe ständig zu viele Dinge, und dann kann ich nichts sehen.«
    »Sind es die Toten?«
    Maerad begegnete seinem Blick, und etwas in ihren Augen zuckte bei seinen Worten zusammen, als verursachten sie ihr Schmerzen. »Ja. Und andere Dinge. Ich - ich weiß nicht, was sie sind. Oder wer.«
    Cadvan nickte, wenngleich er bestenfalls eine äußerst verschwommene Vorstellung davon hatte, was sie meinte. Doch ihm war klar, dass Maerad nicht mehr reiten konnte. Kurz überlegte er, dann schlug er vor, dass Hem auf Keru reiten sollte und Maerad mit ihm auf Darsor. Hem, der das Geschehen angespannt beobachtet hatte, begann leise mit Keru zu reden und ihre Nase zu streicheln. Die Stute mochte Hem bereits und erhob keine Einwände dagegen, ihn zu tragen. Maerad sagte von sich aus nichts mehr, und Cadvan bedrängte sie nicht. Gehorsam kletterte sie hinter ihm auf Darsor und schlang die Arme um Cadvans Mitte. Sie atmete seinen vertrauten Geruch ein, leicht würzig wie Pfeffer, und lehnte die Wange gegen seinen Rücken. Er war das einzig Feste in einer Welt, die unter ihren Füßen wegzubrechen schien. Sie empfand es als unaussprechliche Erleichterung, die Augen zu schließen.
    »Auf diese Weise kann ich dich festhalten, bevor du fällst«, meinte Cadvan über die Schulter, als sie sich wieder in Bewegung setzten. »Theoretisch zumindest.«
    »Ich werde nicht fallen«, gab Maerad zurück und verstärkte den Griff um ihn. Maerad wusste nicht, was mit ihr geschah. Seit sie die Schwarze Armee durch das Tal marschieren sehen hatte, ein gewaltiges Werkzeug des Todes mit Zerstörung im Sinn, fühlte es sich an, als hätte sich etwas in ihren Geist eingeschlichen. Die Sprunghaftig-keit ihrer Sicht, die sie in den vergangenen Tagen heimgesucht hatte, steigerte sich rasch: Ohne Grund oder Vorwarnung wechselte sie schwindelerregend von einem Zustand zum anderen. Im einen Augenblick erfüllte sie Furcht, im nächsten war sie völlig furchtlos; im einen Augenblick nahm sie bis hinunter zur kleinsten Feldmaus deutlich alles wahr, was sich in der Landschaft rings um sie bewegte, im nächsten schien ein riesiger schwarzer Abgrund vor ihr zu klaffen, der sie mit einer entsetzlichen Schwerkraft anzog und ihr das Sehvermögen raubte. Als sie jenen Abgrund zum ersten Mal erblickt hatte, war sie von Keru gefallen: Von Grauen gepackt, hatte sie die Hände vor die Augen gerissen und vergessen, dass sie auf einem Pferd saß. Zum ersten Mal seit dem Verlassen des Hohlen Landes wünschte sie, sich in Schlaf flüchten zu können, doch Schlaf war ein so weit entfernter Ort, dass sie sich nicht einmal vorzustellen vermochte, wie er sich anfühlen musste.
    Die vernünftige, bewusste Maerad war noch da, aber sie glich einer winzigen, einsamen Gestalt inmitten eines bevorstehenden Sturmes; der Wind wehte in Stößen und Böen oder flaute schlagartig völlig ab, und ein gespenstisches Licht erhellte alles um sie herum mit einer fast unerträglichen Klarheit. Dann wieder schien sich jäh alles zu verfinstern, und unberechenbare Blitze zuckten durch ihren Geist. Und durch all diese verwirrenden Wandlungen hindurch spürte sie eine wachsende Vorahnung der Verdammnis. Das Einzige, was sie davon abhielt zu glauben, den Verstand zu verlieren, war Cadvans Nähe. Sie dachte überhaupt nicht mehr daran, ob er sie liebte, oder wie sehr sie ihn liebte. Sie brauchte ihn, und er war da, und das war alles, was zählte. Die Toten flackerten immer noch vor ihr, aber weniger zahlreich und flüchtiger, und beinah jeder, den sie sah, wirkte verängstigt, traurig oder von Schmerzen gezeichnet. Das Wehklagen, das sie zuvor

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