Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
anderen Kreaturen der Finsternis mehr wahr, nachdem die Schwarze Armee verschwunden war. Dennoch hing ein nachgerade greifbares Gefühl der Bedrohung in der Luft; die menschenleere Nacht, die sich rings um sie erstreckte, war wie ein lauerndes Raubtier. Am Himmel zogen sich Wolken zusammen und verhüllten den Mond, und es roch nach Regen, wenngleich keiner fiel. Der Wind raschelte rastlos durch die Bäume, und die Pferde stampften und schnaubten, während sie dösten, doch abgesehen davon herrschte Stille.
Hem und Hekibel schlummerten, vor knorrigen Wurzeln an-einandergekauert, während Saliman und Cadvan Wache hielten. Maerad gab kein Wort von sich: Ihre ganze Aufmerksamkeit war gen Westen gerichtet. Nachdem die Armee vorübergezogen war, erstieg sie die Kuppe der Anhöhe und starrte mit bleichem Antlitz und funkelnden Augen in Richtung des Katenmoors, als suchte sie nach etwas. Niemand fragte, wonach sie Ausschau hielt. Aus ihrer Haltung sprach etwas Wildes, das keine Fragen duldete.
Sie sattelten die murrenden Pferde und setzten sich vorsichtig südwärts in Bewegung. Hier verlief der Usk reißend zwischen den steilen Ufern. Die einzige Überquerungsmöglichkeit bot die Brücke, über die sich die Bardenstraße von Ettinor aus nach Norden erstreckte und die im Schatten des Nordrands der Bruchhügel lag. Sie folgten dem Fluss und behielten ihn zu ihrer Rechten in Sichtweite. Der Weg erwies sich als steinig und uneben. Saliman, Cadvan und Hem waren gezwungen, Makilons zu entfachen, um Licht für die Schritte der Pferde zu schaffen. Um sie vor feindlichen Blicken zu verbergen, setzten sie einfache Schleierzauber ein. Hem hatte das Gefühl, dass ihn die Magie stärker erschöpfte, als es der Fall sein sollte.
Sein Erdgespür regte sich; zumindest glaubte er, dass es sein Erdgespür war. Er fühlte einen überwältigenden Drang, der ihn zum Katenmoor zog. Die Empfindung ließ sich unmöglich verdrängen und wurde mit jedem Augenblick stärker. Er fragte sich, ob Zugvögel etwas Ähnliches verspürten, wenn sie zu ihren Frühlingsnestern im Norden zurückkehrten: ein unzweideutiges Wissen, ein Verlangen wie Hunger, das durch jede Faser ihres Wesens verlief und sie an einen bestimmten Ort zog. Da sie dem Usk Richtung Süden folgten, entfernten sie sich eigentlich von ihrem Ziel, und das Wissen schlug sich in Form von Zögerlichkeit auf Hem nieder, wenngleich sein Verstand wusste, dass es der einzige Weg zur Überquerung des Flusses war. Zugleich beunruhigte ihn ein tiefreichendes Unbehagen, das er nicht recht zu benennen vermochte. Die Schatten wirkten dunkler, als sie es selbst in dieser finsteren Nacht sein sollten, und sie schienen voller kläglicher Schreie zu sein, die unterhalb der Schwelle seines Gehörs erklangen. Und er spürte, wie sich in seinen Geist heimtückisch eine Abscheu schlich, die mit seiner Unruhe wegen der Richtung, der sie folgten, nichts zu tun hatte. Es war, als nähme er die Ränder einer Präsenz wahr, eine Vorahnung, dass etwas oder jemand sich näherte. Vielleicht, dachte er verdrießlich, war es nur seine Angst vor dem, was geschehen mochte. Denn er hatte große Angst, auf ein Weise, wie er sie nicht mehr empfunden hatte, seit er in Dagra gewesen war. Sie waren noch nicht weit gekommen, als Maerad plötzlich kreischte. Der Laut durchzuckte Hem wie ein Messer. Er wirbelte herum und sah, wie Maerad mit den Händen vor den Augen von Kerus Rücken zu Boden fiel. Mit einer einzigen Bewegung schwang er sich von Usha, zog sein Kurzschwert und suchte die Nacht nach Feinden ab; aber er konnte kein Anzeichen eines Angriffs entdecken, und außer Maerads rauem Keuchen, während sie auf dem Boden lag und mit den Händen das Gesicht bedeckte, war kein Geräusch zu hören.
Cadvan, der sich Maerad am nächsten befand, erreichte sie als Erster. Keru schnupperte verdutzt, mit aufgestellten Ohren und sich blähenden Nüstern an ihrer Reiterin.
Sie ist von meinem Rücken gefallen, sagte Keru, als Cadvan bei ihr eintraf. Maerad löste zögerlich die Hände von den Augen und setzte sich langsam blinzelnd auf.
Keru stupste sie behutsam mit der Nase an. Bist du verletzt? Habe ich dir wehgetan?
Maerad wirkte wie benommen und antwortete zunächst nicht; dann gab sie einen Laut von sich, der sich wie ein Schluchzen anhörte, griff empor und tätschelte Kerus Nase. Nein, meine Süße, es ist nicht deine Schuld, sagte sie. Ich bin einfach gefallen.
Cadvan hob ihr Kinn an und musterte suchend ihr Gesicht.
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