Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
gespürt hatte, war geschwunden, wenngleich sie es nach wie vor wahrnahm. Eine größere Kraft schien die Toten beiseitezudrängen, eine Gegenwart, die sie nicht ganz aufzuspüren oder zu benennen vermochte, und die Toten flüchteten davor, arme, klägliche Schatten, wie Laub vor einem aufkeimenden Wind. Was immer es sein mochte, Maerad war überzeugt, seine Absicht zu kennen: Es jagte sie, wollte sie zerstören, sie in seine unendliche Finsternis hineinziehen.
Sie hielt die Augen fest zugepresst; wenn sie die Lider öffnete, wurde ihr übel, als stürzte sie aus großer Höhe. Mit geschlossenen Augen war es nicht wesentlich besser, aber sie richtete alle Aufmerksamkeit auf die raue Wolle von Cadvans Mantel, die ihr über die Haut schabte, während sie die Wange dagegendrückte. Sie spürte seinen Herzschlag und die Wärme seines Körpers durch den Stoff wie einen glimmenden Ofen in einer kalten, Furcht erregenden Welt.
Die Nacht war völlig schwarz: Schwere Wolken verhüllten den Mond. Cadvan führte die Gruppe an, so schnell er es wagte. Wenngleich er schon oft durch dieses Tal geritten war, fürchtete er, dass er die Brücke über den Usk in der Dunkelheit übersehen könnte, und er wollte keinen Augenblick länger in der Nähe des Flusses bleiben als notwendig. Leichter, aber steter Regen setzte ein und durchnässte sie. Die Tropfen glitzerten silbrig im magischen Licht und fielen wie kalte Perlen von ihren triefenden Mänteln in die Schatten zu ihren Füßen.
Cadvan sorgte sich zutiefst um Maerad. Ihr zierlicher Leib, an den seinen gepresst, zitterte vor Kälte oder etwas anderem, und sie hatte kein Wort von sich gegeben, seit sie auf Darsor aufgestiegen war. Sie umklammerte ihn so fest, dass es sich schwierig gestaltete, zu reiten. Er versuchte, ihren Geist zu berühren, doch Maerad weilte zu weit entfernt an einem Ort, den er nicht begriff, und als er sich ihr entgegenstrecken wollte, schrumpfte sein Geist vor einem überwältigenden Kummer, der ihn bewog, sich taktvoll zurückzuziehen, verunsichert und voller Traurigkeit.
Cadvan wusste nicht mehr, weshalb sie durch diese finstere Nacht ritten oder was sie am Ende ihrer Reise vorfinden würden. Er spürte, wie Verzweiflung in seine Seele kroch. Kurz betrachtete er sie mit kalter Abscheu, als wäre sie eine Schabe, die nicht sterben wollte, ganz gleich, wie oft er auf sie trat, dann wandte er sich davon ab. Seine persönlichen Empfindungen spielten keine Rolle mehr. Auch Hem spürte Maerads Ferne, und in seiner gegenwärtigen Angst bedrückte sie ihn zutiefst. Er vermisste Irc, aber obwohl die Krähe sich mittlerweile zu weit entfernt für eine Gedankenverbindung befand, nahm er ständig ihre leichte Gegenwart wahr, ein trübes, aber erkennbares Licht inmitten der weiten und leeren Wildnis. Obschon Maerad nur wenige Schritte vor ihm ritt, schien sie ihm unermesslich weit weg zu sein, verloren in einem undurchdringlichen Gewirr von Schatten, und er wusste, dass er ihr nicht helfen konnte. Hem hielt sich so dicht wie möglich bei Saliman und Hekibel, und während Cadvan und Maerad schweigend ritten, unterhielten die drei sich leise miteinander, schufen in der kalten Nacht eine flüchtige menschliche Wärme.
Sie erreichten die Brücke über den Usk in den dunkelsten Stunden der Nacht. Niemand von ihnen erwartete, die Brücke unbewacht vorzufinden, und so näherten sie sich ihr vorsichtig. Hem, Saliman und Cadvan hatten mit einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit den stärksten Schild gewoben, den sie zustande brachten: Ihre eigene Gegenwart und die Makilons konnten sie zwar vor beobachtenden Blicken verbergen, doch die Macht, die Maerad ausstrahlte, war eine völlig andere Sache. Wenn Untote die Brücke bewachten, wäre es völlig aussichtslos, sie unbemerkt zu überqueren.
Ein Stück von der Straße entfernt hielten sie an und musterten den schwarzen Bogen der Brücke und die Schatten der Bäume entlang des Flusses, und die Stille rings um sie schien sich zu vertiefen, als lauschte etwas ihrem Herannahen. Maerad rührte sich hinter Cadvan.
»Da sind Untote«, sagte sie. Dann sog sie, als hätte sie plötzlich Schmerzen, scharf die Luft ein und umklammerte Cadvan noch fester.
Maerad, was ist?, fragte Cadvan besorgt in ihrem Geist.
Er glaubte schon, sie würde nicht antworten, doch schließlich tat sie es. Sie haben Schmerzen, sagte sie. Sie alle haben Schmerzen. Und die Schmerzen werden nie enden…
Wer? Cadvan drehte den Kopf und versuchte, ihr in die
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