Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
kramte einen kleinen Öltuchbeutel daraus hervor, in dem sie den Federkiel verwahrte, den Dernhil ihr vor einem Jahr in Inneil geschenkt hatte, außerdem ein winziges verstöpseltes Tintenfässchen und ein paar kostbare Bogen Papier. »Das habe ich immer dabei, falls - na ja, falls ich einen Ort finde, wo ich schreiben üben kann.« Bedauernd blickte sie auf das noch fast volle Fässchen. »Allzu viele Gelegenheiten hatte ich bisher nicht.«
Cadvan nahm den Federkiel und das Papier entgegen, suchte einen flachen Stein und schrieb einen kurzen Brief, in dem er umriss, was sie über die Armee wussten. Dann faltete er das Schriftstück so klein wie möglich, sah Irc an, um dessen Erlaubnis einzuholen, und befestigte die Botschaft mit einem Lederriemen an einem Bein der Krähe.
Du musst Valcal von Lirigon finden, sagte er. Bitte den nächstbesten Barden, den du siehst, dich zu Valcal zu bringen. Jeder wird wissen, wer er ist, weil Valcal der Oberste Barde ist. Sag, du hast dringende Neuigkeiten über die Schwarze Armee. Valcal, wiederholte Irc.
Du wirst den Namen nicht vergessen?
Irc wirkte darüber regelrecht gekränkt und ließ sich zu keiner Antwort herab. Stattdessen senkte er den Kopf, pickte versuchsweise an dem Brief an seinem Bein und flatterte anschließend auf Hems Schulter.
Ich breche jetzt auf, verkündete er.
Sei vorsichtig, mahnte Hem. Ich will dich nicht verlieren. Tu nichts Tollkühnes. Ich werde klug sein, erwiderte Irc. Ich werde der Bote des Königs und ein Held sein, und ich werde die Stadt retten. Auf Wiedersehen, mein Freund. Ich werde schneller als der Wind fliegen und bald wieder bei dir sein.
Damit erhob er sich in die Lüfte und beschrieb eine Reihe anmutiger Arabesken, um die Feierlichkeit des Anlasses zu unterstreichen. Hem sah ihm nach, bis er in der Ferne verschwand. Ein neuer Schmerz hatte sich in sein Herz eingenistet. Er fragte sich, ob er Irc je wiedersehen würde. Selbst wenn die Krähe es nach Lirigon und wohlbehalten wieder zurück schaffte, würde Hem dann noch am Leben sein? Und was würde Irc tun, wenn Hem stürbe?
Cadvan räusperte sich. »Möge das Licht seinen Schwingen Auftrieb bescheren und ihn beschützen«, meinte er. »Wenn der Bote des Königs Lirigon rettet, werde ich ihm persönlich sieben weitere Titel verleihen.«
»Wenn er Lirigon rettet, wird er unausstehlich sein«, entgegnete Hem. »Aber ich liebe ihn trotzdem. Ich hoffe nur, ihm geschieht nichts.« Unwillkürlich kippte seine Stimme.
Saliman legte Hem die Hand auf die Schulter. »Unterschätz Ircs Schläue nicht«, sagte er ermutigend. »Ich würde eine Menge Gold auf seine wohlbehaltene Rückkehr wetten.«
»Die Hälfte davon müsstest du Irc überlassen. Obwohl nur das Licht weiß, was er damit machen würde, außer es in ein Loch in einem alten Baum zu stopfen«, erwiderte Hem.
Er sah Saliman in die Augen und lächelte schief. Saliman war der Einzige, der wirklich verstand, wie sehr Hem seinen prahlerischen Freund liebte. Trotz all seiner unbestreitbaren Klugheit war Irc doch nur eine gewöhnliche Krähe und so anfällig wie jede andere kleine Kreatur für die Unfälle und die Böswilligkeit der größeren Welt. Mit plötzlicher, schmerzlicher Lebhaftigkeit erinnerte Hem sich an seinen ersten Anblick Ircs: ein dürrer, linkischer Jungvogel, auf den von seinen Gefährten gnadenlos eingehackt worden war. Mittlerweile war er zu einem starken, schönen Vogel herangewachsen, dennoch war er nur ein Vogel. Und nun flog er in die sich verfinsternden Wolken des Abends, ein winziger Punkt Leben, der am riesigen Himmel nicht mehr auszumachen war; ein beträchtlicher Teil von Hems Herz war mit ihm geflogen.
Das Katenmoor
Erst nach Mitternacht, lange nachdem die letzten Reihen, gefolgt von einem Tross beladener Wagen, die dunkle Straße hinab in Richtung Lirigon verschwunden waren, wagten sie es, das Tal zu durchqueren. Als die Schwarze Armee weiter nach Norden zog, stellten sich allmählich die gewöhnlichen Geräusche der Nacht wieder ein, dennoch entspannten sich die Reisenden nicht. Tatsächlich schien sich die Spannung zu steigern, als die Schatten im Verlauf der Nacht immer tiefer wurden. Sie sprachen nur im Flüsterton und die meiste Zeit überhaupt nicht. Maerad hatte offenbar recht damit behalten, dass man sie nicht bemerken würde. Obwohl sowohl Saliman als auch Cadvan mit allen Sinnen um sich tasteten, nahmen sie keine Spur von Hexerei und keinen Hinweis auf die Gegenwart von Untoten oder
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