Die Pension Eva
ihm?«
»Ja.«
»Der Heilige dieser Stadt heißt aber San Calogero, San Calò. Und weil du gerade hier bist, wäre es eigentlich angebrachter, wenn du zu ihm beten würdest. Mailand ist schließlich weit weg.«
Nadia war ganz dicht vor ihm. Sie konnte der mächtigen geheimnisvollen Anziehungskraft dieses Mannes nicht widerstehen, dessen Pracht sich unter der Kutte erahnen ließ. Und was für Augen dieser Mönch hatte! Ein schwarzer abgrundtiefer See. Und was für ein schöner Mund!
Ein Mund, den sie, ohne zu wissen, was sie tat, voller Verzweiflung küsste.
Dabei empfand sie eine Lust wie nie zuvor in ihrem Leben … so stark, dass ihr ein einziger weiterer Kuss reichte, um …
Lust? Und das Gelübde, das sie abgelegt hatte? Das feierliche Versprechen? Nein, das durfte sie aus Liebe zu ihrem Bruder nicht brechen. Unvermittelt stand sie vom Schoß des Mannes auf, der sie gar nicht berührt, ja noch nicht einmal gestreift hatte. Ihren Kuss hatte er nicht erwidert.
»Ich kann nicht, entschuldigen Sie bitte.« Sie verließ das Zimmer. Die Tabletten nahm sie mit, doch sonderbarerweise brauchte sie sie gar nicht mehr, ihre Kopfschmerzen waren verschwunden, und sie fühlte sich angenehm müde. Kurz bevor sie einschlief, sprach sie ein Gebet zum Heiligen der Stadt, San Calò, zu dem sie noch nie gesprochen hatte. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, suchte sie ihre Tabletten, konnte sie aber nicht finden. Sie ging in das Zimmer in der ersten Etage hinunter und öffnete die Schublade des Nachttischs: Dort lag die Schachtel. Es verschlug ihr die Sprache. Wie denn? Hatte sie die Tabletten in der Nacht nicht mit hinaufgenommen, nachdem sie dem Mönch begegnet war? Sie dachte nach: War sie dem Mönch wirklich begegnet, oder hatte sie nur geträumt? Wenn sie jetzt am Tage darüber nachsann, war sie überzeugt, dass alles nur ein Traum gewesen war, der ihrer Aufregung geschuldet war. Wäre ja noch schöner! Ein Mönch, der eine Frau in einem Bordell aufsucht. Man weiß ja nicht mal, wie er überhaupt hereingekommen ist! Ein schwarzer Mönch! Reine Phantasie! Fast schämte sie sich.
Gegen zehn Uhr abends bekam Nadia leichtes Fieber. Sie bat Signora Flora, auf ihr Zimmer gehen zu dürfen, und legte sich ins Bett. Ihr Mund brannte, weil sie so durstig war. Gegen Mitternacht kam Signora Flora, um nach ihr zu schauen. Sie sagte Nadia, dass sie sofort Fieber messen solle.
»Versuch, dich auszuruhen. Morgen früh rufe ich den Arzt.«
Ausruhen: Daran war gar nicht zu denken! Gegen drei Uhr in der Nacht stand Nadia auf. Sie hatte das dringende Bedürfnis, hinunter ins Zimmer in der ersten Etage zu gehen. Im Dunkeln stieg sie die Treppe hinab. Sie wollte auf keinen Fall, dass die anderen sie hörten. Als sie die Tür öffnete, saß der Mönch dort, wo er auch in der Nacht zuvor gesessen hatte.
»Ich habe auf dich gewartet.«
»Und ich bin gekommen.«
»Ich wollte dir sagen, dass ich mich informiert habe.«
»Worüber?«
»Über dich, dein Leben, deinen Bruder Filippo.«
»Aber wie haben Sie …«
»Ich habe viele Freunde. Sie haben mir versichert, dass dein Bruder nichts mit der Sache zu tun hat. Er ist unschuldig.«
Es klang so wahrhaftig und überzeugend, dass Nadia vor Erleichterung auf die Knie fiel. Tränen strömten ihr übers Gesicht.
»Meinen Sie das ernst?«
»Ich mache niemals Scherze. Und ich sage dir noch etwas anderes: Ich kann dafür sorgen, dass dein Bruder den Prozess gewinnt.«
»Dann tun Sie es bitte, um Himmels willen!«, flehte Nadia ihn an und hob die gefalteten Hände.
»Unter einer Bedingung.«
»Welcher?«
»Dass du mir gibst, was du anderen Männern gibst.«
»Nein, das geht nicht.«
»Warum?«
»Weil …«
»Los, sag’s schon.«
»Weil ich spüre, dass ich mit dir wahre Lust empfinden würde.«
»Das ist doch umso besser.«
»Aber ich habe ein Gelübde abgelegt, ich darf es nicht brechen.«
Mehr konnte sie nicht sagen. Sie ging langsam die Treppe wieder hinauf in ihr Zimmer und warf sich aufs Bett. Erschöpft schlief sie ein. Am nächsten Morgen hatte sie kein Fieber mehr, sie fühlte sich aber noch schwach. Es war nicht nötig, den Arzt zu rufen. Nadia war davon überzeugt, dass die Begegnungen mit dem Mönch ein Traum gewesen waren. Aber um sicherzugehen, fragte sie Signora Flora, ob man unter Umständen nachts heimlich in die Pension gelangen könne.
»Ja, bist du denn von Sinnen?«, war die Antwort.
Am Einunddreißigsten morgens wurde sie durch lautes Trommeln geweckt. Sie
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