Die Pension Eva
blinzelte durch die Fensterläden und sah draußen vor der Pension Eva zwölf Männer in weißem Hemd und schwarzer Hose. Sie trugen bunte, auf dem Kopf verknotete Tücher und spielten Tamburine unterschiedlicher Größe.
»Die Feierlichkeiten für San Calò haben begonnen«, erklärte Signora Flora den Mädchen, die allesamt vom Festland waren. »Und weil morgen der erste Sonntag im September und Feiertag ist, bleibt die Pension geschlossen. Ihr müsst euch unbedingt den Umzug ansehen. Männer tragen die Statue des Heiligen und gehen neben einer Tragbahre, auf der kranke Kinder sitzen. Von Fenstern und Balkonen wirft man Brot herunter, das eigens für das Fest gebacken wird. Die Leute, die im Zug mitgehen, fangen das Brot auf. San Calò ist der Volksheilige, der Heilige der Unglücklichen, Kranken, Armen und Hungerleidenden.«
»Schauen Sie sich die Prozession an?«, fragte eines der Mädchen Signora Flora.
»Bestimmt. Ihr könnt gerne mitkommen. Um Punkt ein Uhr verlässt der Heilige die Kirche.«
Am nächsten Tag aßen sie früh zu Mittag und verließen um halb eins gemeinsam die Pension. Doch Nadia war nicht nach Ausgehen. Sie legte sich wieder hin und dachte über ihr Schicksal nach. Gegen sechs Uhr abends hörte sie, wie die Tamburine näher kamen. Die Prozession würde gleich an der Pension vorbeiziehen. Da stand sie auf, ging ans Fenster und öffnete die Fensterläden einen Spalt. Das Erste, was sie sah, war die Statue des Heiligen. Ihr stockte der Atem. Wie konnte es sein, dass der Heilige dieselbe schwarze Hautfarbe hatte wie der Mönch, dem sie nachts begegnet war? Auch sahen sie sich ähnlich, nur dass der Heilige schon alt war und einen langen weißen Bart trug. Und war es wirklich nur wegen des Schwindelgefühls, das sie plötzlich überkam, dass sie meinte, die Statue hätte ihr in die Augen gesehen, kurz bevor sie ohnmächtig zu Boden sank?
Sie entschied, sich der Signora Flora anzuvertrauen. Doch die lachte nur.
»Aber du hast den heiligen Calò doch gleich bei deiner Ankunft gesehen!«
»Wo denn?«
»In meinem Zimmer, komm, ich zeig ihn dir.«
Eine kleine Statue des Heiligen stand auf dem Nachtschränkchen der Signora Flora. Nadia hatte ihn wahrscheinlich wahrgenommen, ohne sich weiter darüber Gedanken zu machen. Und dann war er ihr im Fieber erschienen. Sie hatte sich die ganze Geschichte mit dem Mönch nur eingebildet.
Der Tag kam, an dem sie aus der Pension Eva abreisen sollte. Als Nadia ihren Koffer öffnete, um ihre Kleider einzupacken, sah sie Filippos Brief, den sie dort aufbewahrt hatte. Der Umschlag kam ihr mit einem Mal so dick vor, vielleicht hatte sie irgendetwas hineingetan und es wieder vergessen? Sie öffnete den Brief, schob die Hand hinein, und was sie ertastete, ließ sie erstarren. Ganz langsam zog sie zehn Tausend-Lire-Scheine heraus, sieben Hunderter und einen Fünfziger: genau die Summe, die sie brauchte. Sie fasste sich an die Stirn, aber die war nicht heiß; sie hatte kein Fieber.
»Gleich wache ich auf und werde merken, dass nichts von alledem wahr ist.« Sie gab sich eine kräftige Ohrfeige.
Sie spürte den Schmerz, aber die Scheine waren trotzdem noch da. Das Geld, das sie für ihren Bruder brauchte, lag vor ihr abgezählt auf dem Bett. Wie war das möglich? Plötzlich begriff sie. Zitternd öffnete sie die Tür und rief atemlos:
»Signora Flora, bitte, kommen Sie schnell!«
Als Signora Flora die verstörte Stimme des Mädchens hörte, stürzte sie sofort herbei.
»Kommen Sie herein und schließen Sie die Tür. Was sehen Sie auf dem Bett?«
»Geld, viel Geld.«
Da umarmte Nadia Signora Flora, fing an zu weinen und lachte gleichzeitig, verhaspelte sich und stotterte:
»Er hat ein Wunder an mir getan! Sehen Sie, dass ich recht hatte? Er ist zweimal gekommen und hat mich besucht, um mich auf die Probe zu stellen. Er wollte sehen, ob ich mein Gelübde halte!«
Signora Flora war so gerührt, dass sie gar nichts sagen konnte.
»Was soll ich jetzt machen?«, fragte Nadia schließlich. Signora Flora überlegte einen Augenblick.
»Was sollst du schon machen? Nimm das Geld und schick’s deinem Bruder. Aber jetzt geh in die Kirche und zünde eine Kerze für den heiligen Calò an. Nur eine, das genügt ihm. Und erzähl niemandem von der Geschichte. Es sollte nicht die Runde machen, dass San Calò nachts ins Bordell kommt und eine Hure besucht.«
Als Domenico Piolo in dem Alter war, in dem kleine Kinder anfangen zu sprechen, merkten sein Vater und seine
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